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Du bist raus!

Persönlich und versöhnlich: Ein Text über eine eigene Mobbinggeschichte, erschienen in DIE ZEIT, 7.Februar 2019

Ich steige auf den Lehrertisch. Im Traum bin ich groß, ich habe Macht, ich kann sprechen. Dieses Mal hören mir alle zu. Was ich jetzt sage, lässt die, die gerade einen Witz über mich gemacht haben, verstummen. »Ich bin nicht so, wie ihr denkt!«, rufe ich, »ich bin eine von euch. Ihr habt kein Recht, über mich zu lachen!«

Von dieser Szene habe ich selbst dann noch geträumt, nachdem ich längst das Abiturzeugnis hatte und endlich frei war. Viele Jahre habe ich nicht mehr an diesen Traum gedacht. Bis mein erstes Kind im vorletzten September eingeschult wurde und ich die alte Angst in mir aufsteigen spürte, diesmal um seinetwillen.

Wenn ich heute von meiner Schulzeit erzähle, sage ich immer, dass es »nicht leicht« war. Tatsächlich aber bin ich jahrelang, von der siebten bis zur zehnten Klasse, so gut wie jeden Morgen mit Angst in die Schule gegangen. Was mir vorkam wie eine rätselhafte Ausnahme, ist in Schulen allgegenwärtig: Etwa 20 Prozent aller 13- bis 18-Jährigen haben mit Mobbing zu tun, als Opfer oder als Täter oder sogar in beiden Rollen zugleich. Mobbing läuft mal stärker, mal schwächer in nahezu jeder Schulklasse, in jeder hierarchisch organisierten Gruppe ab.

Als mich zum ersten Mal jemand »Schleimerweib« nannte, war ich gerade zwölf geworden und trug eine Brille. Zur Schule fuhr ich mit einem Fahrradhelm aus rosa Styropor. Die meisten anderen in der neu zusammengewürfelten 7b waren schon mitten in der Pubertät. Mir war das fremd, ihr Verhalten schien mir rätselhaft.

Die ersten Wochen der siebten Klasse zogen über uns hinweg wie ein Unwetter. Es wirbelte uns durcheinander, Freundschaften und Rivalitäten entstanden. Hinterher war die Rangordnung bis auf Weiteres festgelegt.

Über meinen Platz machte ich mir keine Illusionen: Der war ganz unten. Zwei Jungs, die selbst ums soziale Überleben kämpften, verbrachten die Stunden damit, mich und die anderen drei »Schleimerweiber«, darunter meine beste Freundin C., zu karikieren und die Bilder durch die Reihen zu geben. Sie nutzten jede Gelegenheit, uns lächerlich zu machen. Verteidigt wurden wir von keinem.

Das ist jetzt mehr als 25 Jahre her – und doch durch die Einschulung plötzlich wieder da. Ich beschließe, ehemalige Klassenkameraden zu kontaktieren. Ich will wissen, wie sie die gemeinsame Zeit erlebt haben, verstehen, was damals passiert ist. Ich will darüber schreiben, und ich will, dass es eine versöhnliche Geschichte wird. Meine Theorie ist, dass die Pubertät immer hart ist. Dass es nicht nur für mich eine verdammt harte Zeit war.
Von einigen finde ich keine Spuren im Netz, andere reagieren nicht. Aber F., der ganz oben in der Hierarchie stand, schreibt mir zurück. Er war der beste Fußballer der Klasse, alle Jungs wollten sein wie er. Und wenn er, auf dem Tisch stehend, Luftgitarre spielte, himmelten ihn die Mädchen an. Nur wenige der Gemeinheiten kamen von ihm – aber er profitierte am meisten vom klaren Oben und Unten.

Schon per Mail hatte F. mir geantwortet, dass er meiner Theorie nicht zustimme. Er habe eine wundervolle Jugend gehabt. Das, schreibt er, habe sicher auch an seinem Glück gelegen, »genug Gene mit Infos für das zu haben, was Gleichaltrige für attraktiv oder anziehend oder was weiß ich gehalten haben«.

Als ich F. an einem Abend vor einigen Monaten anrufe, haben wir beide gerade unsere Kinder ins Bett gebracht. Wir wohnen in entgegengesetzten Ecken Deutschlands und haben seit 20 Jahren nicht miteinander gesprochen. »Klar, ich war im Zentrum«, hatte er mir geschrieben. Am Telefon erzählt er mir, dass er schon mal Mitschüler gegoogelt habe, von denen man heute wohl sagen würde, dass die gemobbt worden seien. Auch meine Freundin C. »Wir haben zwar versucht, nur über sie zu reden, wenn sie nicht da war. Aber das hat natürlich nicht immer geklappt«, sagt F. »Was meinst du, warum C.?«, frage ich. F. zögert, dann sagt er: »Die war ja nun wirklich keine Schönheit.«

Aber warum wird jemand gemobbt? Was macht einen Schüler zum Opfer? Und wer wird Täter?
Prinzipiell könne jeder Opfer von Mobbing werden, sagt Manuel Stoiber. Der Schulpsychologe hat an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität an einem der führenden Lehrstühle für Mobbingforschung gearbeitet. Entscheidend seien nicht Merkmale einer Person, sondern die Gruppennormen, die die Jugendlichen am oberen Ende der Hierarchie festlegten. Etwa 30 Prozent eines Jahrgangs, sagt Stoiber, strebten nach Dominanz. »Die Chance, dass in einer Schulklasse Mobbingstrukturen entstehen, ist sehr hoch. Schließlich ist Mobbing in festen Gruppen, die man nicht so einfach verlassen kann, eine perfekte Methode, um eine dominante Position zu erlangen.«

Doch so zufällig wir als Ziel ausgewählt worden sein mögen, so sehr fühlte ich mich in meiner Gesamtheit gemeint. Denn nur scheinbar ging es um Kleinigkeiten wie meine Brille, den Skianzug von Aldi, einen zu braven Satz. Die Bosheiten zielten auf meinen innersten Kern, auf die Frage, ob ich als Mensch in Ordnung war. Das war umso verstörender, als ich diesen Menschen selber noch nicht richtig kannte. Dazu kam die Isolierung, der Ausschluss von Einladungen, Feiern, Gesprächen in der Pause.

Gut möglich, dass unsere Klasse besonders schwierig war: Zweimal sah ich Lehrer weinend rauslaufen. Was sie empfanden, ahnte ich, weil ich das Gleiche fühlte: Ohnmacht. Dass sie an unserer Situation etwas ändern könnten, erschien mir unwahrscheinlich, schließlich wurden auch sie, irgendwie, gemobbt. Mobbing ist nicht allein eine Täter-Opfer-Beziehung, sondern ein komplexes System. Wenn die Klassentür zu ist, sind alle im Raum ein Teil davon. Auch die Lehrer.

Nach einer kurzen Zeit, in der wir versuchten, uns gegen die Witze zu wehren, schalteten wir in einen Überlebensmodus. Um nicht als Streberin bezeichnet zu werden, beteiligte ich mich nicht mehr am Unterricht. Drei Winter hintereinander war ich versetzungsgefährdet. Statt für die Schule lernte ich Mimikry, Anpassung auf allen Ebenen. In meinem Tagebuch notierte ich wichtige soziale Regeln, die ich glaubte erkannt zu haben: »Man sollte sich öfters Briefchen schreiben und nicht zu brav im Unterricht sitzen. Auch mal was anderes machen als zuhören.« Ich begann, Sprache, Kleidungsstil und Verhaltensweise der angesagten Gruppe zu kopieren. Als ich mit meiner ersten Levi’s-Jeans das Einkaufszentrum verließ, fühlte sich das an, als hätte ich ein magisches, weil Schutz spendendes Kleidungsstück gekauft.

In der Klasse hütete ich mich davor, Privates zu erzählen. Augenkontakt vermied ich. Wenn die Atmosphäre brenzlig wurde, wartete ich auf dem Klo, bis der Unterricht begann. Die Mehrzahl aller Pausen in der Mittelstufe verbrachte ich in der Bibliothek. Dort waren wir eine seltsame Mischung aus Außenseitern, Nerds und Lernbesessenen, die hinter den Regalen hockten und lasen – oder so taten als ob. Der Zeiger auf der Uhr rückte quälend langsam vor, während wir auf den schmalen Heizkörpern warteten, dass die Pause endlich vorbei war.
Mobbing ist eines dieser Themen, zu denen jeder eine eigene Geschichte erzählen könnte – es aber selten tut. Egal ob es die Scham ist, Mitschüler nicht verteidigt oder mitgemobbt zu haben, oder die Erinnerung daran, ein Ausgestoßener gewesen zu sein. Scham war es auch, die mich davon abhielt, von meiner Lage in der Schule zu erzählen. Ich schämte mich vor meinen Eltern, vor Freunden, vor den Lehrern. Dazu kam, dass es nie das eine krasse Erlebnis gab. Jede einzelne Beleidigung, jeder abfällige Blick, jedes Lachen auf meine Kosten war für sich genommen kein Drama. Ich hatte ein stabiles Umfeld, Familie, Freunde und bei Weitem nicht die schlimmste Mobbinggeschichte. Aber schon die tägliche Wiederholung kleiner Gemeinheiten reicht, um eine Wunde entstehen zu lassen. Erst nur ein Kratzer, dann eine immer tiefere Verletzung.

Es gab eine kurze Zeit zum Ende der neunten Klasse, in der ich Hoffnung schöpfte. Da wurde ich zu einem Treffen bei einer Mitschülerin eingeladen. Ich konnte kaum glauben, dass die unsichtbare Wand, die mich von den anderen trennte, eine Tür hatte. Wir tranken Alko-Pops, es ging um Jungs, und ich ignorierte meine Langeweile. Die Gastgeberin sagte, ich hätte mich zu meinem Besseren verändert. Das sollte ein Kompliment sein, aber ich fand etwas Bitteres daran, dass ich nicht um meiner selbst willen gemocht wurde – sondern nur wegen meiner Anpassungsbemühungen.

Zudem war das nicht die Wende: Ab sofort gewann in unserer Klasse ein Junge an Einfluss, der Spaß daran hatte, zu quälen. Gemeinsam mit anderen etablierte er die »Stuhlfolter«. Immer wieder wurden Mitschüler mit Gewalt bis auf die Unterwäsche ausgezogen und auf einen Stuhl gefesselt, ihre Klamotten wurden währenddessen aus dem Fenster geworfen. Ein Junge, der mit am häufigsten darunter zu leiden hatte, wurde obendrein regelmäßig von einer johlenden Gruppe in den Papierkorb gesteckt.

Auch wenn ich selbst nie körperlich angegriffen wurde, verschob dieser Regelbruch für mich die Grenzen des Möglichen. Einerseits hörte ich auf, dazugehören zu wollen. Andererseits bekam ich, wenn ich im Unterricht etwas sagen sollte, keine Luft mehr. Mein Herz raste, ich konnte keinen Satz hervorbringen. Nach einer solchen Schulstunde bat mich mein Klassenlehrer zu sich und sagte, ich solle mehr Elan zeigen.

»Das war in Ihrer Situation das Schlimmste, was passieren konnte«, sagt Manuel Stoiber, als ich ihm davon erzähle. Als Lehrer dürfe man dem Opfer auf keinen Fall vermitteln, dass es an ihm selber liege, dass es einfach etwas netter sein müsse. »Wenn man nur einen einzigen Satz hat, dann muss man sagen: ›Du bist nicht schuld‹«, sagt Stoiber. Die Erleichterung, die dieser Satz meinem 15 Jahre alten Ich gebracht hätte, spüre ich wie einen fernen Nachhall. Ich bin nicht schuld.

Klassenlehrer, sagt Stoiber, müssten in der hierarchischen Klassengemeinschaft die Rolle des Anführers übernehmen und für ein gutes Klima sorgen. Wenn Mobbing dennoch auftrete, müssten sie Opfer stärken und Täter sanktionieren. Nehme der Lehrer die Rolle nicht ein, »entsteht ein Machtvakuum, eine Lücke, die durch einen nach Macht strebenden Schüler besetzt wird«.

Vor Kurzem fuhr ich an meiner alten Schule vorbei, einem Plattenbau im Hamburger Speckgürtel. Hinter jedem Fenster, dachte ich, sitzt jetzt ein Kind, das wünscht, es säße nicht hier. Und ich denke an meine Kinder: Meine Tochter geht mittlerweile in die zweite Klasse. Sie ist immer noch begeistert. Trotzdem, wenn sie von der Schule erzählt, höre ich genau auf die Zwischentöne.

Heute haben Schulen Anti-Mobbing-Programme, Lehrer werden besser auf Mobbingsituationen vorbereitet. Andererseits gibt es Instagram, WhatsApp und Snapchat, etwa zehn Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 19 leiden unter Cybermobbing, schätzt Manuel Stoiber. Die belastende Situation ist dann nicht nach Schulschluss vorbei, sondern verfolgt die Betroffenen nach Hause, in ihr Zimmer, in die Ferien, in die Wochenenden. Schutzräume gibt es nicht mehr.

Für mich wurde es erst besser, als ich im weniger hierarchischen Kurssystem im 12. und 13. Jahrgang endlich die respektierte Außenseiterin wurde, als die ich mich gerne sehen wollte. Mit meinen ehemaligen Klassenkameraden geredet habe ich nie. Auf den Tisch, von dem ich so oft träumte, bin ich nicht gestiegen. Ich war froh, dass es vorbei war.
Nach unserem Telefonat vermittelte F. mir den Kontakt zu E. Die beiden waren beste Freunde. E. ist ein ausgleichender Typ mit einem intakten Wertesystem, bei dem ich mich immer gefragt habe, wieso der da mitmacht. An einem Abend der vielen warmen Tage des vergangenen Jahres sitzen wir an der Untertrave in Lübeck. E. sagt, dass er sich im Klaren darüber gewesen sei, dass er wegen seiner Freundschaft zu F. einen »sozialdynamischen Joker« auf der Hand gehabt habe. Trotzdem, selbst er habe Angst vor dem Stuhlfolterer gehabt, er könne sich vorstellen, wie sich das für mich angefühlt habe. Er sagt, er würde sich wünschen, er hätte ein Verteidiger sein können.

Wir schauen in unser Abi-Buch und identifizieren jene, die es schwerer hatten. Es schien, als sei das Leben auf den Schulkorridoren nicht mehr als ein andauernder Sieg der vermeintlich Stärkeren über die Schwächeren. Nach zwei Stunden machen wir ein Foto unter einer Laterne, E. und ich, die mal zu zwei verschiedenen Lagern gehörten. Das könnte ein gutes Ende der Geschichte sein. Aber ich muss noch eine Sache erledigen.

C. ist heute Ingenieurin und Triathletin und wohnt mit ihrer Familie im Ruhrgebiet, in einem Haus, das sie mit Freunden gekauft hat. Nach der 9. Klasse ist sie sitzen geblieben. In den Monaten zuvor hatte unser Chemielehrer versucht, sie zu motivieren. »Du bist doch in diesem Raum die Intelligenteste!«, hatte er gesagt, und ich wusste, dass er recht hatte. Ich hatte schließlich meine Kindheit an ihrer Seite verbracht. C. hatte täglich eine neue Idee, war immer dabei, irgendetwas auszuprobieren und zu erfinden. Wir waren ein gutes Team, in dem ich für die Kommunikation mit der Außenwelt zuständig war.

Auch weil ich besser in allem war, was mit sozialen Regeln zu tun hatte, ging es mir nie so schlecht wie C. Und in den Momenten, in denen sich die unsichtbare Tür zu den anderen öffnete, schwieg ich, wenn sie über C. sprachen. Ich verteidigte sie nicht. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich sie zurückgelassen. Hat sie das gespürt? »Klar«, sagt sie. »Du warst plötzlich anders, hast auch diese komischen Klamotten getragen. Und ich saß in den Pausen alleine im Kellerklo.«
Du bist raus
»Das tut mir leid«, sage ich. »An deiner Stelle hätte ich das auch gemacht«, sagt C. »Ich glaube nicht, dass man sagen kann: »Der oder die ist schuld gewesen.Es war, wie es war.«
Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ob keiner schuld war. Aber für heute ist das egal. Endlich habe ich mit C. gesprochen. F. hat mir zugehört. E. hat gesagt, er wünschte, er wäre ein Verteidiger gewesen. Und ich bin jetzt doch noch, irgendwie, auf den größten Tisch gestiegen.
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