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Liste mit Lücken

Die Bundesregierung stellt auf Anfrage alle rechtsextrem motivierten Tötungsdelikte seit Januar 2015 zusammen. Das Innenministerium zählt 18 Fälle – doch die Liste ist unvollständig. Warum?

Die Molotowcocktails schlagen um kurz nach Mitternacht ein. Schnell steht der Wohnwagen in Flammen, brennt komplett aus. Niemand wird verletzt – aber: “Nur durch einen Zufall hielt sich die Person, die in dem Wohnwagen normalerweise lebt und arbeitet, in dieser Nacht nicht im Wagen auf”, schreiben die Betreiber des Alternativen Kulturwerks in Bitterfeld.

Einige Wochen nach dem Anschlag im April 2015 werden zwei Männer festgenommen, die der rechten Szene zugeordnet werden. Das Landgericht Dessau-Roßlau hat die Angeklagten inzwischen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt – unter anderem wegen versuchten Mordes. Es ist einer der seltenen Fälle, in denen rechtsextreme Täter erfolgreich ermittelt und verurteilt wurden.

Umso erstaunlicher ist, dass sich der Fall nicht in einer Liste rechtsextremer Tötungsdelikte wiederfindet, um die die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner die Bundesregierung jüngst gebeten hatte. Renner wollte vom Innenministerium wissen, wie viele Tötungsdelikte – dazu zählen (versuchter) Mord und Totschlag – Rechtsextremisten seit Januar 2015 begangen haben. Ihr ging es nur um jene Fälle, in denen Tatverdächtige ermittelt wurden.

Das Ministerium führte in seiner Antwort 18 Fälle auf. Doch der Brandanschlag auf das Alternative Kulturwerk in Bitterfeld fehlt. Es ist nicht die einzige Merkwürdigkeit in der Liste. Auch den schlagzeilenträchtigen Angriff auf eine Asylbewerberunterkunft im sächsischen Freital aus dem vergangenen Jahr sucht man vergebens, obwohl deswegen jüngst mehrere Tatverdächtige angeklagt wurden – unter anderem wegen versuchten Mordes.

Wie kann das sein?

  • Im Fall des Brandanschlags von Bitterfeld ermittelte die Polizei zunächst lediglich wegen schwerer Brandstiftung. Erst die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen versuchten Mordes. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE teilte das Innenministerium mit, dass “Verfahren nach der Abgabe an die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht Gegenstand der statistischen Erfassung” seien. So wurde das neu bewertete Verfahren nicht im kriminalpolizeilichen Meldedienst vermerkt. Dabei soll eben dieses Meldesystem alle politisch motivierten Taten aus ganz Deutschland zentral erfassen.
  • In Freital sollen am 1. November 2015 Mitglieder der selbst ernannten “Bürgerwehr” Sprengsätze an Fensterscheiben einer Asylunterkunft befestigt haben, ein Syrer wurde durch Glassplitter verletzt. Der Generalbundesanwalt hat die Gruppierung gerade wegen versuchten Mordes, aber vor allem auch wegen Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung angeklagt.Genau da liegt laut Ministerium der Grund dafür, dass die Tat nicht in der Liste aufgeführt ist. “Zu melden ist der Straftatbestand, der die höchste Deliktsqualität aufweist”, heißt es. “Dabei gilt nach den Regularien der Grundsatz Terrorismus vor politisch motivierter Gewaltkriminalität.” Soll heißen: Schwerer als der Anschlag wiegt der Vorwurf, dass die Täter sich mutmaßlich zu einer terroristischen Vereinigung zusammengeschlossen haben.

Formal-juristisch mag das stimmen. In einer regierungsamtlichen Aufstellung rechter Tötungsdelikte sollte der Anschlag trotzdem auftauchen. Gleiches gilt für die Attacke von Bitterfeld. Andernfalls könnte in der Öffentlichkeit ein Zerrbild rechter Gewalt entstehen. Auch Medien verlassen sich auf die Angaben aus dem Haus von Thomas de Maizière (CDU). SPIEGEL ONLINE hatte Mitte Oktober über die Antwort des Innenministeriums auf die Linken-Anfrage berichtet – ohne dass die fehlenden Fälle oder die Meldemechanismen problematisiert wurden.

Laut Aufstellung des Ministeriums gab es seit 2015 keine Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland. Allerdings wurde die Liste erstellt, bevor ein sogenannter Reichsbürger im Oktober in Georgensgmünd auf vier Polizisten schoss. Einer der Beamten erlag seinen Verletzungen.

Auch beim Amoklauf von München, bei dem im Juli neun Menschen erschossen wurden, gibt es Hinweise auf eine möglicherweise rechtes Motiv. Der Täter war stolz, wie Hitler am 20. April geboren und als Deutsch-Iraner “Arier” zu sein. Er hasste Türken, sympathisierte mit der AfD und wählte als Datum seines Blutbads den Jahrestag der Anschläge des Rechtsextremisten Anders Breivik. Die Polizei München teilt jedoch mit, man habe “bis jetzt keine Hinweise auf die von den Medien verbreitete These gefunden”.

Ein Fall zu viel auf der Liste?

Linken-Politikerin Renner sieht ein Problem darin, “dass in vielen Fällen ein rechter Hintergrund von vornherein ausgeschlossen wird”. Außerdem würden viele Fälle nicht als Tötungsdelikte bewertet.

Beispiel Altena: Dort hatten zwei Männer ein Haus in Brand gesteckt, in das kurz zuvor Geflüchtete aus Syrien eingezogen waren. Der Staatsanwalt sah zunächst kein rassistisches Tatmotiv, die Ermittler ignorierten Hitler-Fotos und Hakenkreuz-Bilder, die sie auf den Handys der Täter gefunden hatten. Zwar stellte der Richter schließlich fest, dass es sich um eine “fremdenfeindliche Attacke” handelte. Aus der “gefestigten ausländerfeindlichen Gesinnung” der Täter könne das Gericht aber “nicht den zwingenden Schluss ziehen, dass sie auch mit dem Tod der Hausbewohner einverstanden gewesen wären”. So wurden die Täter lediglich wegen schwerer Brandstiftung verurteilt.

In einem ähnlichen Fall werden sich zwei Tatverdächtige, die im September 2015 einen Brandanschlag auf eine Asylunterkunft in Porta Westfalica verübt haben sollen, nun wegen eines versuchten Tötungsdelikts vor Gericht verantworten müssen. Dies entschied jüngst das Amtsgericht Minden. Der Fall wäre somit ein Nachtrag für die Liste des Innenministeriums.

Fehlende Fälle sind übrigens nicht das einzige Problem an der Aufstellung. An einem Fall, der sich in der Liste findet, sind Zweifel angebracht. Anfang Oktober prügelten im brandenburgischen Wittstock drei Neonazis einen Kameraden fast zu Tode. Auf Anfrage teilt die ermittelnde Polizeidienststelle in Neuruppin mit, dass “der Auslöser des Streits unklar” sei. Trotz unklaren Motivs ordnete die Polizei die Tat als rechtes Delikt ein – “weil sowohl die Täter als auch das Opfer der rechten Szene in Wittstock zugeordnet werden”. Nach diesem Maßstab könnte allerdings jeder Ladendiebstahl, der von Neonazis begangen wird, als politisch motiviert gelten.

Insgesamt geht Martina Renner dennoch davon aus, dass die Regierungsliste zu kurz ausfällt: “Das wahre Ausmaß rechter Gewalt ist größer.”

Erschienen auf Spiegel Online