Seit dreißig Jahren weben jordanische Beduinenfrauen Teppiche für das Bani-Hamida-Projekt. Die Arbeit verbessert ihre ökonomische Situation und bewahrt die Kulturtechnik vor dem Vergessen. Doch die Kriege und Krisen in der Region bedrohen das Einkommen der Frauen.
Alya Sueilem hält die Zukunft in ihren kräftigen Händen. Mit festen Griffen zupft und zerrt sie an ihr. Es ist die Zukunft ihrer Kinder, die zur Schule gehen sollen, ihrer Eltern, die alt und gebrechlich sind, und ihre eigene, die einer alleinerziehenden Mutter von sechs Kindern. Mit gebeugtem Rücken hockt die 35-jährige Frau auf dem kalten Zementboden ihres Hauses und webt aus roten, grünen und blauen Fäden einen Teppich. Es ist eine beschwerliche Arbeit, eintönig, ermüdend. Über ihrem Kopf bröckelt der Putz von der Decke, eine fenstergroße kahle Stelle lässt Lehmziegel hervorlugen. In das Haus hat sich Feuchtigkeit gefressen, großflächige Wasserflecken blicken grimmig von den Wänden. Ein Schrank, eine Kommode und ein paar durchgelegene Matratzen, mehr Möbel gibt es nicht. Auf dem Boden ist ein improvisierter Handwebstuhl aufgebaut. Eine rostige Dose mit Kindernahrung, ein weißer Plastikeimer und zwei kräftige Holzstöcker dienen als Ständer. Die Armut wohnt in dem Weiler mitten in den Bergen, rund zwei Stunden Autofahrt von der jordanischen Hauptstadt Amman entfernt.
Für Alya Sueilem ist das Haus ein Zeichen ihres Erfolgs, ein Neuanfang, eine Chance. Ihren Mann hat sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen, er hat noch drei andere Frauen, lebt in Palästina und schickt nur alle drei bis vier Monate ein paar Dinar. „Ich fühle mich gut, jetzt wo ich Arbeit habe und mein eigenes Geld verdiene“, sagt Alya, die das Weben von ihrer Mutter gelernt hat, „ich bin nicht mehr so abhängig vom Geld meines Mannes.“ Ihre vier älteren Kinder gehen zur Schule, das ist der Mutter wichtig, sie sollen später die Universität besuchen, gutes Geld verdienen. Alya kann weder lesen noch schreiben, war immer Hausfrau, hat ihr gesamtes Leben in einem Beduinenzelt gewohnt. Nun hat sie zum ersten Mal ein festes Dach über den Kopf. Die monatliche Miete, 20 Jordanische Dinar, umgerechnet etwa 26 Euro, bezahlt sie von ihrem Gehalt als Weberin für das Bani Hamida Projekt.
Seit dreißig Jahren weben Beduinenfrauen der Bani Hamida für die Kooperative Teppiche, Körbe und Wandbehänge. Es ist ein uraltes Handwerk, das Mütter an ihre Töchter weitergeben. Mit der Weberei wollte die gemeinnützige Organisation Save the Children Arbeitsplätze für die kurz zuvor sesshaft gewordenen Beduinenfrauen schaffen. Mit Erfolg. Das Projekt startete mit zwölf Frauen, 1994 gehörten 1000 Arbeiterinnen zur Kooperative. Vier Jahre später wurde das Projekt an die Jordan River Foundation übergeben. Die Stiftung kümmert sich seitdem um den Einkauf der Wolle und die internationale Vermarktung. Die Teppiche werden an Kunden in der ganzen Welt verkauft. Heute verdienen 225 Frauen in dreizehn Dörfern ihr Geld mit den hochpreisigen Wollteppichen. Sie spinnen, färben und weben die Wolle zumeist in Heimarbeit.
Eine, die von Anfang an dabei war, ist Halima Al-Qa’aydeh, 48. Eine Frau mit einem Gesicht, das gerne lacht, mit einer herzlichen Art, die Türen öffnet. „Das Projekt ist meine Luft zum Atmen, mein Blut, mit ihm bin ich erwachsen geworden.“ Als sie sich als Freiwillige für das Projekt meldete, war sie gerade 18 Jahre alt, hatte die 9. Klasse abgeschlossen und wollte unbedingt arbeiten. „Ich war dafür eingeteilt, die Wolle an die Frauen zu verteilen. Mit dem Auto fuhr ich von Haus zu Haus, fühlte mich unabhängig und frei. Es war die beste Zeit meines Lebens.“ Schon bald half sie dabei die Webstühle aufzubauen und bekam schließlich eine feste Anstellung. „Als ich mein erstes Gehalt in den Händen hielt, war ich auf Wolke Sieben.“ Für dreißig aufgestellte Webstühle bekam sie umgerechnet knapp zwanzig Euro, „das war damals viel Geld für eine junge Frau.“
Doch nicht jedem gefiel das Projekt, das die Frauen selbstbewusst werden ließ, sie von der Hausarbeit abhielt, ihnen eine starke Stimme gab. Vor allem Halima war den Bewohnern der Dörfer ein Dorn im Auge. „Ich lieferte die Wolle zusammen mit einem Fahrer aus, ich hatte ja keinen Führerschein.“ Der fremde Mann an ihrer Seite – ein Skandal. Die Menschen lästerten und warfen Steine nach ihr. „Ein Dorf durfte ich nicht mal mehr betreten.“ Doch Halima wollte die Arbeit um keinen Preis aufgeben, nicht mal als ihr Verlobter sie vor die Wahl stellte: Er oder ihre Arbeit.
Sie heiratete einen Anderen.
Heute sitzt die vierfache Mutter hinter dem Steuer ihres weißen Jeeps. Sie tritt ordentlich aufs Gaspedal, Jeans lugen unter ihrem dicken schwarzen Mantel hervor. Der Arbeitstag beginnt für Halima im Morgengrauen. Jemand sagte ihr mal, „wenn du erfolgreich sein willst, musst du früh aufstehen“. Schon vor Jahren hat man ihr die Leitung der Weberei übertragen. Sie kennt jeden in der Gegend, weiß welcher Familie es finanziell schlecht geht. Sie hört zu, packt an, ist niemand der wegschaut. Sie redet mit Vermietern, wenn Familien ihre Miete nicht pünktlich zahlen können, und steht Frauen zur Seite, die von ihren Männern verlassen wurden und vor dem Nichts stehen. Sie bekommen schon mal einen Extraauftrag. Die Menschen respektieren sie, winken und hupen. Aus einem einfachen Beduinenmädchen ist eine Berühmtheit geworden. Als erste Frau in der Gegend wurde sie zur Bezirksrätin gewählt. Sie hat die Hände von First Ladies und Präsidenten, Prinzessinnen und Schauspielern geschüttelt. Ihr Projekt gilt als gelungenes Beispiel der Frauenförderung im ländlichen Gebiet.
Doch die hochwertigen, handgewebten Teppiche, die je nach Größe mehrere Hundert Euro kosten, haben Konkurrenz bekommen. Billigware aus China. In schwierigen Zeiten sind teure Artikel Ladenhüter. „Um uns herum gibt es zu viele Kriege, es kommen immer weniger Touristen.“ Anfang 2015 sind die Zahlen der Übernachtungen in Jordanien um die Hälfte eingebrochen, schon das Jahr davor war ein schwarzes Jahr für den Tourismus. Dafür kommen immer mehr Flüchtlinge. Allein über eine Millionen Syrer sind in Jordanien gestrandet. Die Masse der Bedürftigen belastet den jordanischen Staat. Die öffentlichen Zusatzausgaben sind enorm, die Kommunen überlastet. In ihrer Not schuften Flüchtlinge für minimale Gehälter. So schrumpft das ohnehin schon niedrige Lohnniveau zusehends. Nur die Inflation wächst, lag in den letzten Jahren zeitweise bei fünf Prozent. Die Menschen haben kein Geld mehr für teure Teppiche. Momentan halten die finanziellen Mittel der Stiftung das Projekt am Laufen.
Halima parkt ihr Auto vor dem Zentrum der Weberei, ein heller Flachdachbau auf einer Bergkuppe. Im Inneren stehen grünen Gitterboxen mit dicken Wollknäueln, in einem kleinen Verkaufsraum liegen Hunderte Teppiche in allen Formen, Farben und Mustern. Vier Frauen arbeiten hier, nehmen Aufträge an, sortieren die Wolle oder entwickeln neue Muster. Immer wieder versuchen sie das Sortiment zu vergrößern. Gerade produzieren sie Seife. Die ersten Probestücke liegen schon auf dem Holztisch, auf dem Regal daneben stehen selbst gezogene Kerzen. Es sind Waren, die weit weniger kosten als die Teppiche, leichter ins Gepäck passen und daher eher als Souvenir mitgenommen werden – so die Hoffnung der Geschäftsfrauen. Vor der Tür des Neubaus zeigt Halima nach Südwesten, das Tote Meer ist zu sehen, sogar die Silhouette von Jerusalem auf der anderen Seite. Auf den grünen Bergwiesen wachsen Blumen in allen Farben, Schmetterlinge fliegen umher. Doch die Idylle trügt. Schon vor der Krise fehlten Arbeitsplätze in der Region. Bergdörfer verwaisten.
Halima fährt jeden Tag viele Kilometer mit dem Auto durch die Berge. Kleine Staubwolken begleiten sie auf ihrem Weg. Heute hält Halima vor einem alten, weißen Haus. Hier wohnt Hisen Jahaleen, das Haus gehört ihrer Schwester. In das Gesicht der Weberin hat sich das Leben gezeichnet, tiefe Falten umrahmen die Augen. Sie sitzt auf einer schwarzen Plastikplane, hat sich das Garn um den Fuß geschlungen und webt mit festen, stoischen Handbewegungen an einem Teppich aus verschiedenen Blautönen. „Die Arbeit ist anstrengend“, sagt sie, „aber ich möchte mich nicht beschweren, mir gefällt sie.“ Wie alt sie ist, weiß sie nicht. „Ich kann weder lesen noch schreiben. Meine Geburtsurkunde kann ich nicht entziffern.“ So um die 60 Jahre müsste sie sein, vermutet sie. „Ich habe mein ganzes Leben lang hart gearbeitet und immer gehofft, mich eines Tages ausruhen zu können. Aber manche Menschen sind wohl zum Arbeiten geboren.“
Der Wind pfeift sachte über den staubigen Platz vor dem bescheidenen Haus, verrostete Eisenstangen auf dem Dach sind Zeugen eines längst verworfenen Anbauplans, bevor die große Flucht begann. Viele Menschen im Dorf sind Bauern oder Ziegenhirten, nur die wenigsten haben eine feste Arbeit. Mukawir war immer schon eine strukturschwache Region, Touristen verirrten sich nur selten hierher, fuhren lieber nach Petra, Jerash oder ans Tote Meer. „Wir bräuchten dringend Arbeit“, sagt die alte Frau und schüttelt den Kopf, „fast alle ziehen weg.“ Von dem einsamen Bergdorf in die Städte, wo es öffentliche Verkehrssysteme, Krankenhäuser, Supermärkte und zuverlässige Strom- und Wasserversorgung gibt. Tausende haben die Gegend bereits verlassen, vor allem die Jungen setzen ihre Hoffnungen in die Städte.
„Auch mein Mann hat mich vor acht Jahren verlassen“, sagt Hisen, „seit ich vor vier Jahren mit dem Weben begonnen habe, kann ich immerhin selbst für mein Essen und mein Leben aufkommen.“ Das Projekt sichert ihr nicht nur ein Einkommen, sondern auch den Kontakt zu anderen Frauen. „Manchmal bereite ich die Webarbeiten für andere vor oder helfe ihnen, den Webstuhl aufzubauen. Geld nehme ich dafür nicht, obwohl ich es gut gebrauchen könnte.“ Heute leistet ihr ihre Schwester Gesellschaft. Die ältere Dame sitzt auf einer Steinmauer, auch Halima setzt sich dazu, sie reden über die Arbeit, das Wetter und über eine Wasserrechnung, die das Dorf seit zwei Wochen nicht bezahlen kann.
Hisen webt ohne aufzublicken weiter. Faden um Faden. Seit drei Tagen arbeitet sie an einem Wollteppich für eine „amerikanische Lady“, vier Stunden am Tag, wenn er fertig ist, so in einer Woche, bekommt sie umgerechnet 78 Euro dafür. „Von dem Geld kann ich sechs Monate lang das Gas für meinen Ofen bezahlen.“ Sie vermisse nichts in ihrem Leben, sagt sie und stockt, „ein eigenes Haus wäre schön.“ Aber das sei ein weit entfernter Traum. Dafür bräuchte sie mehr Aufträge, aber Halima kann nur Arbeit vergeben, wenn Aufträge reinkommen. Und momentan sind die Zeiten schlecht.
Halima lächelt trotzdem. Aufgegeben, hat sie noch nie.