In Malawi arbeiten zehntausende Kinder in der Tabakindustrie. Der Umgang mit den Blättern macht sie krank. Doch in einem Land, das abhängig vom Geschäft mit dem Nikotin ist, haben sie keine Wahl.
Giftgrün ragen die Tabakstauden in den regenschweren Himmel an der Westgrenze Malawis. Stunden sind es bis zum nächsten Dorf. Die Luft steht, die Zeit steht, und keine von beiden scheint nachgeben zu wollen. Bis in die Stille hinein ein Husten bricht. Dann noch eins, lauter, näher. Einen Augenblick später tritt eine Gruppe Tabakpflücker aus dem Staudenwald. Einer von denen, die husten, heißt Emanuel*. Er trägt ein Bündel grüner Blätter auf der Schulter. Später wird er sagen, ihm gehe es oft nicht gut, keine Ahnung, warum. Kopfschmerzen kommen, keine Ahnung, woher. Emanuel hat große Augen, in denen sich Tränen sammeln. Er ist fünf Jahre alt.
»Wenn mein Vater Hilfe braucht«, sagt Emanuel, »dann arbeite ich mit ihm auf dem Feld.« Der Vater braucht seine Hilfe oft. Die Erntesaison ist gerade in vollem Gange. Die Felder leeren, die Tabakauktionshallen füllen sich. Es bricht die Zeit an, auf die Malawi den Rest des Jahres hinfiebert: die Zeit, in der sich welke Blätter in harte Devisen verwandeln. Nach Angaben der malawischen Tabakkontrollkommission waren es 2010 220 000 Tonnen, das entspricht etwa 314 Millionen Euro. Viel Geld für ein finanziell ausgedörrtes Land wie Malawi. Kein anderer Staat ist dem Tabak auch nur annähernd so verfallen – mehr als sechzig Prozent der Exporteinnahmen Malawis und der größte Teil des Arbeitsmarkts hängen am Tabakanbau.
Aber wo bleibt das Geld? Warum müssen Kinder wie Emanuel auf den Feldern arbeiten? Mittwochmorgen, kurz vor sieben. Der Regen der Nacht versickert im roten, weichen Boden. In löchrigen Hemden hocken Emanuel und sein zwei Jahre älterer Bruder Peter unter einem Dach aus Stroh. Vor ihren Füßen liegen frische, klebrige Tabakblätter. Die beiden Brüder nähen sie mit Grashalmen aneinander, um sie dann an die dürren Äste über ihnen zu hängen. Vier Wochen lang wird der Tabak trocknen. Auch Peter klagt über Schmerzen. Wo immer man mit den Kindern der Tabakfarmen spricht – in Mchinji, weiter nördlich im Distrikt Kasungu, oder in den Hügeln rund um die Hauptstadt Lilongwe – erzählen sie von den gleichen Beschwerden: Kopfweh, Übelkeit, Schwäche und Schwindelanfälle. Weil sie keine Handschuhe und Schutzkleidung tragen, gelangt das Nervengift Nikotin über die Haut in den Körper. Als »Grüne Tabakkrankheit« bezeichnen Ärzte die Vergiftung. Kinder reagieren schon bei niedrigen Dosen.
Die Kinderhilfsorganisation Plan International veröffentlichte 2009 einen Bericht, in dem knapp vier Dutzend Tabakarbeiter im Alter zwischen zwölf und achtzehn zu Wort kommen. Viele von ihnen schildern die typischen Symptome der Tabakkrankheit. Keines der Kinder, so der Bericht, wusste um die Gefahr des direkten Kontakts mit den Pflanzen. »Niemand macht das freiwillig«, stöhnt Ralph Chavula, der Vater von Peter und Emanuel, als er mit einem weiteren Riesenbündel vom Feld zurückkehrt und es seinen Söhnen vor die Füße wirft. Er selbst war acht, als er seinem Vater zum ersten Mal bei der Ernte zur Hand gehen musste. Seitdem diktiert Tabak sein Leben. »Ich habe als Kind angefangen«, sagt er. »Und heute brauche ich die Hilfe meiner Kinder. Anders geht es nicht.«
Ralph Chavula ist Tabakpächter. Der Gutsherr stellt ihm, seiner Frau Ticia und seinen Kindern für eine Saison ein Tabakfeld groß wie ein Fußballplatz zur Verfügung. Dazu ein paar Eimer Maismehl zum Essen und einige Säcke Dünger. Wohnen kann die Familie in einem kleinen Backsteinhaus am Rand der Plantage. Gerade hoch genug, um aufrecht darin zu stehen. Gerade breit genug, um ungekrümmt darin zu liegen. Erst am Ende der Saison will der Landlord den Chavulas 36 000 Kwacha auszahlen – etwa 180 Euro für neun Monate Arbeit. Darauf verlassen können sie sich nicht. »Man ist dem Landlord ausgeliefert«, sagt Mutter Ticia. Sie hat ihren Jüngsten in einem Tuch auf den Rücken gebunden. Der Einjährige bekommt heute als Einziger Frühstück: eine Plastiktasse Maisbrei.
Tabakanbau ist Plackerei. Die Saison begann im September, da haben die Chavulas die Samenkörner in die Beete am Fluss gesät. Bald nach dem ersten Regen haben sie die Setzlinge von Hand ausgegraben und in ihr Feld gepflanzt. Dort haben sie gejätet, den Boden aufgelockert, Dünger und Pestizide verteilt. Jetzt pflücken sie jedes Blatt einzeln, die untersten zuerst. Nach dem Trocknen klassifizieren und verpacken die Pächter ihre Ernte. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geht das, jeden Tag und so lange, bis das letzte welk gewordene Blatt in einem Ballen verschwunden ist, bis Mai oder Juni vielleicht.
Eigentlich besuchen Emanuel und Peter die drei Kilometer entfernte Grundschule. Peter kam so selten zum Unterricht, dass er das Jahr wiederholen musste. Nun ist es mit der Schule ganz vorbei. In der vergangenen Woche hat die Lehrerin Peter nach Hause geschickt. Er war ohne seine Schuluniform, ein türkisgrünes, dünnes Hemd, zum Unterricht erschienen. Die Uniform sei zerschlissen gewesen, sagt die Mutter. Nicht mehr zu retten. Peter hatte gehofft, dass die Schule für ihn eine Ausnahme machen würde. Aber die Lehrerin schrie: »Ohne Uniform brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen!« Als nachmittags auch Emanuel aus der Schule kam, stürzte sich Peter auf ihn. Er riss an den Ärmeln und zerrte am Stoff von Emanuels Schulhemd, bis es dem Jüngeren in Fetzen von den Schultern hing. Am Ende weinten die Brüder gemeinsam.
Tabakpächter wie die Chavulas werden von ihren Landlords oft mit dreißig bis sechzig Kwacha, fünfzehn bis dreißig Cent, für ein Kilo Tabak der Sorte Burley abgespeist. Manche bekommen weit weniger. Der Landbesitzer wird die Lieferung über einen Zwischenhändler in die Hauptstadt Lilongwe verkaufen.
Dort befindet sich das wirtschaftliche Herz des Landes: eine Auktionshalle, so gigantisch, dass sich die akkurat aneinandergereihten Tabakballen zu einem künstlichen Horizont verdichten. »Die größte Tabakauktionshalle Afrikas«, sagt ein Mitarbeiter mit gebügeltem Hemd und teurem Handy. Er spricht von »grünem Gold«, das ihm hier in 92 Reihen à hundert Ballen, jeder um die hundert Kilo schwer, zu Füßen liege. In den Auktionshallen lag der Kilopreis für die Tabaksorte Burley 2010 bei durchschnittlich 1,34 Euro – einem Vielfachen des Pächtererlöses.
Den Markt von Malawi beherrschen die beiden amerikanischen Rohtabakhändler Universal und Alliance One International. 2009 kauften sie über ihre Tochterfirmen 63, beziehungsweise 86 Prozent der Sorten Burley und Virginia auf. Das malawische Antikorruptionsbüro klagt, die beiden Händler bildeten ein Kartell und drückten den Preis. Laut Exportbericht der malawischen Tabakkontrollbehörde geht ein Großteil der Ernte nach Belgien, gefolgt von Ägypten, Russland, den USA und Deutschland. Zu den Importeuren zählen hierzulande Reemtsma (»West«), die deutschen Niederlassungen von Philip Morris (»Marlboro«) und British American Tobacco (BAT, »Lucky Strike«) sowie der SchnupftabakWeltmarktführer Pöschl (»Gletscherprise«). Für ein Kilo Rohtabak zahlen diese Firmen je nach Qualität bis zu sechs Dollar.
Aus einem Kilo lassen sich rund 1800 Zigaretten herstellen. Verkauft wird diese Menge im Schnitt für 414 Euro. Der Staat nahm 2010 davon 256 Euro als Steuer ein. Käme der Tabak allein aus Malawi, läge der Anteil für Bauern wie die Familie Chavula bei unter 0,1 Prozent. Es sei bisweilen »schwer nachzuvollziehen, woher der Tabak kommt«, so eine ReemtsmaSprecherin. Er stamme großteils von Händlern, die ihn aus über fünfzig Ländern beziehen. Philip Morris erklärt auf Anfrage: »Wir besitzen keine eigene Tabakfarm in Malawi.« BAT betont, man beziehe Tabak über Drittanbieter. Es wäre zu einfach, den Tabakkonzernen alle Schuld am Los der Tabakbauern von Malawi zu geben, meint Father Jos Kuppens, Direktor des christlichen Centre for Social Concern in Lilongwe. Viele würden von der Ausbeutung der Pächter profitieren, auch die Länder des Nordens: »Einerseits lassen sie Malawi Entwicklungshilfe zukommen, gleichzeitig nehmen sie ungleich viel mehr Geld durch Tabaksteuer ein.«
Ein Mann, der die Hilflosigkeit der Pächter verkörpert, ist Raphael Sandramu, Generalsekretär der Tabakarbeitergewerkschaft Totawum. »Es ist kein politischer Wille erkennbar, an den Lebensbedingungen der Pächter etwas zu ändern«, sagt der 55Jährige auf einer Rundfahrt durch die Plantagen des MchinjiDistrikts. Mitte der Neunziger bereits hatte er sich mit Delegierten der Farmbesitzer und der Regierung getroffen und den Entwurf für ein Pachtarbeitsgesetz ausgearbeitet. Es sollte Kinderarbeit eindämmen und den Tabakbauern schriftliche Verträge sowie sauberes Trinkwasser garantieren. »Doch in all den Jahren hat der Gesetzentwurf nur Staub angesammelt«, sagt Sandramu. Es wundert ihn kaum: Er kann einige Minister aufzählen, die selbst Plantagen besitzen. Der Gewerkschafter trägt das Papier immer mit sich, akkurat geheftet, in einer schwarzen Aktentasche. Im Sommer, so Sandramu, hätte der Entwurf endlich dem Parlament vorgelegt werden sollen. Das habe ihm der Arbeitsminister versprochen. Geschehen ist wieder nichts.
Millionen leben in Malawi vom Tabak. Sandramus Organisation hat aber nur 23 000 Mitglieder. Nicht einmal jedes zweite kann den Jahresbeitrag von einem Euro regelmäßig aufbringen. Oft hat der Gewerkschaftschef kein Geld für Benzin, um mit seinem Motorrad abgelegene Plantagen anzufahren. Mehrfach schon wurde er von Gutsherren bedroht, mal mit einem Buschmesser, mal mit einem Gewehr. Ein Landlord, sagt er, habe ihn in einen Motorradunfall verwickelt. Die Narben auf seinen Händen und Armen zeugen davon.
Nicht nur die Landbesitzer sind nervös. Auch die Politiker und Hilfsorganisationen im Land. Schuld ist eine im Herbst 2009 veröffentlichte Studie des USArbeitsministeriums, die malawischen Tabak aufgrund von Kinder und Zwangsarbeit als bedenklich einstufte. Das USAußenministerium erwog einen Boykott. In einem Brief an das Ministerium für Innere Sicherheit, der uns in die Hände fällt, listet das malawische Arbeitsministerium unsere Reisedaten und die anderer ausländischer Journalisten auf – woher es die Daten hat? Unklar. Das Schreiben schließt mit der Bemerkung, eine internationale Berichterstattung über Kinderarbeit in Malawi sei nicht erwünscht, »insbesondere, wenn sie negative Auswirkungen auf die Wirtschaft dieses Landes hat.«
»Mantha«, Angst, geht um in Malawi. Viele Tabakbauern sind nur an versteckten Orten und gegen Zusicherung ihrer Anonymität zu Gesprächen bereit. Auch der Name der Pächterfamilie in diesem Text ist geändert. Malawische Politiker und Tabakproduzenten haben Kinderarbeit öffentlich gegeißelt und Aufklärungskampagnen gefahren. Aber was nützen sie, solange die Tabakarbeiter nicht auf die Hilfe ihrer Kinder verzichten können? Vor einem kalten Entzug, einem Boykott des malawischen Tabaks, fürchten sich auch die, die unter seiner Produktion am meisten leiden. »Ich wüsste nicht, wovon wir sonst leben sollten«, sagt Ralph Chavula und blickt auf seine Söhne Peter und Emanuel.
»Wann kriegen wir wieder eine Schuluniform, Papa?«, wird Peter später fragen. Ihr Vater wird antworten: »Wenn der Tabak verkauft ist.« Ändert sich nichts an den Arbeitsbedingungen der Pächter, werden wohl auch Peter und Emanuel einmal die Hilfe ihrer Kinder brauchen, um zu überleben. Für ein anderes Leben bräuchten sie eine andere Kindheit.
- Namen der Familienmitglieder geändert
Erschienen am 14. Februar 2011 in NEON.