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Nimm mich mit Kapitän auf die Reise – Porträt Erwin Sellering

erschienen in der taz, 2.8.2016

Auf der Internetseite des Landesverbandes der SPD Mecklenburg-Vorpommern läuft ein Countdown zur Wahl am 4. September: Noch 51 Tage und 12 Stunden. Währenddessen steht Erwin Sellering, Ministerpräsident und Spitzenkandidat der SPD zwischen Shanty-Sängern mit roten Halstüchern unter Deck des Motorschiffes „Ostseebad Wustrow“ und singt. „Nimm mich mit Kapitän auf die Reise“. Der SPD-Ortsverein Unteres Recknitztal, 20 Mitglieder, hat das Schiff gechartert und zum Wahlkampfauftakt etwa hundert Ehrenamtliche und Verantwortungsträger aus der Region eingeladen. Und natürlich Erwin Sellering. Ein Mann mit Vollbart sagt halblaut: „Da bindet der sich drei Stunden ans Bein und fährt hier mit.“
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Die letzte Umfrage von Anfang Juli sieht die SPD nur bei 22, ihren Koalitionspartner CDU bei 25 Prozent. Sellering ist jedoch der beliebteste Politiker im Land, 57 Prozent der Menschen hier würden ihn direkt ins Amt wählen, wenn sie könnten. Deshalb diese One-Man-Show an Bord der MS Wustrow. Wenn die SPD bei dieser Wahl eine Chance haben will, muss sie die Amtsbonus-Karte ausreizen so weit es geht. Eine Stunde nach dem Ablegen wirkt es, als hätte der Ministerpräsident auf einem Schiff mit gut gelaunten Vorpommern die beste Laune von allen.
Dabei ist es 20 Uhr und Erwin Sellering, 66 Jahre alt, hat an diesem Tag bereits Rentiere im Rostocker Zoo getauft, eine Werft in Greifswald besucht, einen Sommerempfang in Stralsund eröffnet und ist dabei im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern etwa 300 Kilometer mit dem Auto gefahren. Wem auch immer er die Hand geschüttelt hat, er hat ihr oder ihm auch in die Augen gesehen, eine Hand kurz auf die Schultern gelegt. Er hat ein halbes Dutzend Interviews gegeben, hatte Beratungen, hat eine Rede und eine Ansprache gehalten. Nun rückt er von ganz vorne nach ganz hinten von Tisch zu Tisch. Und fragt Anneliese Sahr, 83 Jahre, ehrenamtlich aktiv beim Verein deutscher Kriegsgräberfürsorge: „Warum sind Sie denn hier?“ Er hört zu, fragt nach der Meinung seines Gegenübers. Und sagt: „Das ist interessant. Da muss ich mal drüber nachdenken:“
„Der hat sich Zeit genommen, der sitzt hier mitten unter uns, der sagt, wir sollen stolz sein auf das, was wir früher in der DDR geschaffen haben. Das war etwas ganz Wunderbares“, sagt Anneliese Sahr später über das Gespräch.
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Barbara Borchardt, die für die Linke im Landtag sitzt, nennt ihn „aalglatt“, ein „Schwiegermuttertyp“. „Die Leute glauben, dass er sich wirklich für sie interessiert“, sagt sie. „In der Politik kommt nichts davon an.“ Auch seine Gegner sagen, dass er Charisma hat, dass sein vielleicht größtes politisches Talent darin besteht, zuzuhören, Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass er sich für sie interessiert. Erwin Sellering sagt selbst über sich: „Ich bin für zehn, fünfzehn Minuten komplett in dem Gespräch, das passiert mir auch nicht, dass ich dann an etwas anderes denke, das ist dann sehr intensiv. Manchmal treffe ich jemanden nach drei Jahren wieder und wir wissen beide noch worüber wir gesprochen haben.“ Sellering hat 2010 ein zweites Mal geheiratet und einen zwei Jahre alten Sohn. Als Gesprächsöffner erzählt er gerne, dass er ihn zweimal in der Woche morgens alleine versorgt und einmal abends von der Kita holt und ins Bett bringt. „Ein Glück hat er ab der ersten Woche durchgeschlafen“, sagt Sellering.
Erwin Sellering ist 1949 in Sprockhövel im Ruhrgebiet als ältester Sohn mit drei jüngeren Schwestern in ein protestantisch-puritanisches Elternhaus geboren. 1994 kam er als Verwaltungsrichter nach Greifswald, stieg schnell in die Landespolitik ein, wurde 2000 Justizminister, 2006 Sozialminister und übernahm schließlich 2008 mitten in der Legislaturperiode das Ministerpräsidentenamt von Harald Ringstorff. Der galt damals als das personifizierte Mecklenburg-Vorpommern. Sellering hingegen als Risiko, weil er ein Westdeutscher war. Ein paar Monate nach seiner Ernennung gab Sellering der FAZ ein Interview, in dem er die DDR nicht als totalen Unrechtsstaat bezeichnen wollte. „Ich habe mich stets davor gehütet, mit westlichem Blick Verurteilungen vorzunehmen“, sagte er. „Respekt vor den Lebensleistungen der Älteren“ war ein vielplakatierter Slogan der SPD im Wahlkampf 2011. Diese Anerkennung war offenbar Balsam gerade für viele Alte. Denn die empfinden ihre leerer werdenden Dörfer und Städte, den Strukturwandel, den Wegzug der Jüngeren und die schlechte Platzierung in den bundesdeutschen Statistiken (Arbeitsplätze, wirtschaftliche Dynamik, Rechtsextremismus) auch als persönliche Abwertung.
Bundesweit bekannt ist sein Einsatz im NPD-Verbotsverfahren. Warum, versteht man nach einem Besuch im Schweriner Landtag. Denn da sitzen auch fünf Abgeordnete der NPD. Im Umgang mit ihnen gehen die demokratischen Fraktionen den „Schweriner Weg“. Anträge der NPD werden geschlossen abgelehnt und nur von jeweils einem Vertreter einer demokratischen Partei beantwortet. „So kann man natürlich nur mit einer Partei umgehen, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht und deshalb auch verboten werden muss.“ sagt Sellering. In der letzten Sitzungswoche, Anfang Juli, hatte die NPD über 50 Anträge eingebracht, die meisten davon waren leicht im Wortlaut veränderte Varianten vorheriger Anträge. Eine der Sitzungen ging bis 1:17 am frühen Morgen, die Erschöpfung ist bei der letzten Abstimmung deutlich auf dem Gesicht der Landtagspräsidentin abzulesen. „Diese Nacht hing mir noch zwei Tage lang nach“, sagt Sellering.
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Er gilt als nüchtern und unideologisch. Aber es gibt kalkulierte Abrutscher ins populistische. Aktuell hat er über die Landesgrenzen hinaus Aufsehen erregt, als er ein Ende der Sanktionen gegen Russland forderte und Verständnis für die Wähler der AfD äußerte. Er verstehe, wenn Menschen plötzlich fragten „Warum ist für die Flüchtlinge so viel Geld da, für uns aber nicht?“
„Er hat das Image, Verständnis zu haben, hinter seinen Bürgern zu stehen – damit  ist er bisher gut gefahren“, sagt Martin Koschkar, der an der Universität Rostock zu regionaler Politik forscht. Er charakterisiert die Schweriner Regierung als geräuscharm, die Große Koalition ist skandalfrei durch die letzten eineinhalb Amtszeiten gekommen. Inhaltlich hat sie umstrittene Großprojekte wie eine Kreisstrukturreform und eine Gerichtsstrukturreform umgesetzt. Für Sellering „schwere Entscheidungen, die man nun mal treffen muss.“ Die aber auch zu Symbolen für den Strukturwandel und den Niedergang der ländlichen Räume geworden sind. Mit der Sparpolitik der vergangenen Jahre wurden Schulden abgebaut, die Große Koalition feiert sich für ihre solide Finanzpolitik und den Rückgang der Arbeitslosigkeit.
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Jemanden zu finden, der seine Person offen kritisiert ist schwierig. Ein Abgeordneter der Opposition der anonym bleiben will sagt, dass er Sellering für verlässlich und integer halte. Aber er sagt auch: „Sellering hat ein extrem hohes Sicherheitsbedürfnis, viel läuft hinter den Kulissen. Für uns ist es so gut wie unmöglich selbst inhaltlich für die Große Koalition annehmbare Vorschläge in die Ausschüsse zu bekommen. Da steht eine Mauer. Er hat Angst Schwäche zu zeigen, weswegen er auch so gut wie nie von einmal gefassten Beschlüssen abweicht.“ Besonders schwierig werde es, wenn es um Themen gehe, die ihm persönlich wichtig seien, wie die von ihm ins Leben gerufene Ehrenamtsstiftung. „Wenn dann Kritik von der Opposition kommt wird er emotional, reagiert beleidigt und reduziert wie zur Bestrafung die Kommunikation.“
Dass er, sollte er gewählt werden, nicht die gesamte Legislaturperiode im Amt bleiben wird, gilt vielen Beobachtern im Land als ausgemacht. Er sei müde geworden, heißt es, werde das Amt nach zwei Jahren an seine Ziehkinder Manuela Schwesig oder Christian Pegel übergeben. Er selbst dementiert das. Seit die SPD im April den Wahlslogan „Gemeinsam auf Kurs“ ausgegeben hat, posiert er für Presse- und Image-Fotografen bevorzugt an Joysticks, Steuerrädern und Autopiloten. Wenn er ein Fernsehinterview gibt, steht sein Sprecher abseits der Kamera und lächelt wie ein Vater, der seinem Sohn vom Spielfeldrand beim Tore schießen zusieht.
Mittlerweile ist Sellering mit einem Teller Frikadellen und Weintrauben auf roten Plastikspießen bei Tisch 12 von 16 angekommen. Der bärtige ältere Herr, der sich zu Beginn skeptisch äußerte, macht den Platz neben sich frei, damit Sellering reinrutschen kann. Und während der Ministerpräsident mitschunkelt und singt und dabei von Tisch zu Tisch rückt, scheinen sich selbst seine Personenschützer zu entspannen.
Kurz bevor das Schiff wieder im Hafen ankommt, steht Sellering oben im Wind, an Deck der „Ostseebad Wustrow“, auf dem Saaler Bodden ist es dunkel geworden. „Meine größte Sorge ist, dass sich die Gesellschaft weiter spaltet“, sagt er. „Die AfD ist aggressiv, vergiftet das Klima, bietet keine Lösungen an. Ich sehe den Zusammenhalt schwinden.“ Die AfD ist nicht nur für das gesellschaftliche Klima schädlich, sie schadet auch der SPD. Die 16 Prozent Differenz zwischen dem Wahlergebnis 2011, als die SPD 36 Prozent der Stimmen bekam, schiebt Sellering in erster Linie auf den Erfolg der AfD und der schlechten Performance der SPD im Bund. Aktuell kann die AfD mit knapp 20 Prozent der Stimmen rechnen. Wenn es schlecht läuft sitzen im Herbst zwei Parteien am rechten Rand des Schweriner Landtags.
Gegen 22:30 Uhr legt das Schiff im Hafen von Ribnitz-Damgarten an, ein paar Augenblicke später sitzt Sellering im Wagen. Die ersten Wahlplakate hängen schon. Noch 51 Tage, acht Stunden und 30 Minuten bis zur Wahl.