erschienen in der taz, 30.8. 2016
Um 16.30 Uhr ist der Sauerstoff auf dem vermutlich längsten Schulweg
Deutschlands knapp geworden. Es riecht nach Pubertät; nach Deo, das
irgendwas mit Cool oder Ice heißt.
Im hinteren Busteil sitzen die Jugendlichen wie gestrandet. Fast alle
alleine. Auf der letzten Bank zwingen zwei Jungs den anderen ihre Musik
auf, drehen laut und dann wieder leiser und beschimpfen sich. „Du
Arsch!“ – „Nein du!“ Ein paar Reihe weiter vorne sitzt Maximilian Schudde, 18, elfte Klasse. Er fährt jeden Tag auf dieser Linie
nach Bergen. Mehr als drei Stunden am Tag, 15 in der Woche, sitzt er im
Bus. Um 6.06 Uhr, da ist es im Juli schon längst hell, und Drosseln
singen, ist er in den Bus gestiegen, nun fährt er nach Hause.
Mecklenburg-Vorpommern hat die längsten Schulwege in Deutschland.
Bis der Bus an der Endhaltestelle ankommt, wird es laut Fahrplan noch 40
Minuten dauern. Mecklenburg-Vorpommern hat die längsten Schulwege in
Deutschland. Der längste liegt auf der Insel Rügen zwischen Dranske im
Nordwesten der Insel und dem Hauptort Bergen. Seit 2008 gibt es auf der
Insel nur noch dieses eine, das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. In
Mecklenburg-Vorpommern gibt es nur noch halb so viele Schülerinnen und
Schüler wie nach der Wende, die Hälfte aller Schulen wurde seitdem
geschlossen.
Dranske, wo Maximilian Schudde wohnt, liegt im Norden der Landzunge Bug, gegenüber der Insel
Hiddensee. Hier gab es mal eine Grundschule, eine Realschule und ein
Gymnasium. Alle wurden nach der Wende geschlossen. Die
Bushaltestelle liegt vor einer Reihe von Fischerkaten, dahinter stehen
die Offiziershäuser der Nazis aus den 1930er Jahren; in einem davon
wohnt Maximilian. Auf der anderen Straßenseite Wohnblocks, die für die
NVA-Soldaten gebaut wurden.
„Zwischen Wolkenkratzern durchs Nightlife“, singen die, während vom Bus aus nur flaches Land zu sehen ist.
Im Unterschied zu den meisten Jugendlichen, die im Lauf der
eineinhalbstündigen Fahrt zusteigen, sieht Maximilian, Undercut,
schwarzes Kapuzenshirt, nicht todmüde aus. Auf seinen Knien liegt ein
Hefter. „Muss ja“, sagt Maximilian auf die Frage, ob er mit seinem
ultralangen Schulweg klarkommt. „Aber für die Kleinen tut es mir leid“,
sagt er und nickt zu Tom runter, 13, siebte Klasse, der neben ihm sitzt.
„Das ist nicht in Ordnung, dass die so lange Bus fahren müssen.“
Maximilian sagt, er gehe rechtzeitig ins Bett, er sei pünktlich, „gibt
aber schon viele, die mal zu spät kommen.“ Der nächste Bus, der zur
zweiten Stunde an der Schule ist, braucht noch länger, fast zwei Stunden.
Ein paar Bankreihen vor ihm sitzt Josepha Tredup, 15, neunte Klasse.
Auch sie war um 6.06 Uhr an der Haltestelle in Dranske. Sie trägt einen
Nasenring und Shorts, für die es fast ein bisschen kalt ist. Sie hört
Dat Adam, poppigen Rap von drei Anfang-20-Jährigen. „Zwischen
Wolkenkratzern durchs Nightlife“, singen die ihr ins Ohr, während vom
Bus aus nur flaches Land zu sehen ist. Mal ein Fischbrötchenstand, mal
ein Segelboot, Wald.
Der Bus hält gerade in Juliusruh, ein paar Jugendliche steigen aus, die
treffen sich nach der Schule manchmal noch am Strand und hängen da ein
paar Buslängen ab, bevor sie nach Hause fahren. Ein Neuntklässler, der gerade noch erzhlt hat, dass man sich an alles gewöhnt, auch an den langen Schulweg, ist weggenickt, den Kopf
ans Fenster gelehnt.
Die Zeit im Bus ist eine Schleuse zwischen Schule und Zuhause, ein
Zwitter aus Pflicht und Freizeit. Man muss nichts mehr. Aber man muss
Bus fahren. Der Motor ist konstantes Dröhnen, zum Hausaufgabenmachen wackelt es zu sehr, beim Lesen wird einem schnell schlecht. Die meisten Jugendlichen verbringen die Zeit in einer Art Dämmerzustand, zurückgezogen in sich selbst, fast alle mit Stöpseln im Ohr und dem Blick aufs Smartphone.
Man muss nichts mehr. Aber man muss Bus fahren.
Im Frühjahr hat die grüne Landtagsfraktion die Ergebnisse einer Studie
veröffentlicht, die sie in Auftrag gegeben hatte, um die Schulweglängen
in Mecklenburg-Vorpommern zu untersuchen. An vielen Standorten wird die
vorgegebene maximale Dauer von 60 Minuten überschritten. Besonders
häufig auf Rügen. Zitiert wird eine andere Studie, die einen negativen
Zusammenhang zwischen langen Schulwegen in motorisierten Fahrzeugen und
schlechten Schulleistungen ergeben hat.
Seit einigen Jahren steigen die Schülerzahlen in Mecklenburg-Vorpommern
wieder. Dennoch wurden seit 2007 noch einmal fast 50 Schulen geschlossen
– rund neun Prozent aller öffentlichen Schulen. Die Opposition wirft der
Landesregierung vor, den Haushalt auf Kosten der Kinder und Jugendlichen
zu konsolidieren. „Ausgerechnet im dünnbesiedelten
Mecklenburg-Vorpommern sind die Hürden für den Erhalt eines
Schulstandorts besonders hoch“, sagt Ulrike Berger, bildungspolitische
Sprecherin der Grünen. „Bei uns benötigt eine Grundschule im Regelfall
mindestens 20 Schüler in der Eingangsklasse. In Brandenburg, Sachsen und
Bayern sind es nur 15, in Hessen sogar nur 13. Wir müssen darum dringend
unsere Mindestschülerzahlen senken, damit die Entwicklung nicht so
weiter geht.“
Maximilian und Josephas Schule ist ein Bau aus der Gründerzeit, zehn
Minuten Fußweg von der Haltestelle entfernt. Im Sekretariat hängt ein
Spruch: „Wer morgens zerknittert ist, hat tagsüber viele
Entfaltungsmöglichkeiten.“ Der Rektor und seine Stellvertreterin wollen
nichts zum Schulwegthema sagen. Aber im Lehrerzimmer sitzt Jens Basan.
Er unterrichtet Englisch und Russisch. „Neulich bin ich mit meiner Frau
in der Freizeit mal bis kurz vor Dranske gefahren. Das war weit.
Wahnsinn, dass die das täglich zwei Mal machen müssen.“
Nicht nur Kinder aus Dranske sind betroffen. Rügen, Deutschlands größte
Insel, ist so groß, dass es in allen Himmelsrichtungen tote Enden an den
Buslinien gibt, von denen aus Kinder und Jugendliche stundenlang zur
Schule fahren. Auf Druck der Elternvertreter wurde ein Konzept erstellt,
das vorsieht, dass die Lehrer pro Woche nicht mehr Hausaufgaben aufgeben
dürfen, als man in 60 Minuten erledigen kann. Manche halten sich dran,
manche nicht. Die Regelung soll den Jugendlichen, die lange zur Schule
fahren, wenigstens den Druck nehmen, abends noch Hausaufgaben machen zu
müssen.
„Abends“, sagt Josepha, „hänge ich noch ein bisschen rum, wir essen
zusammen Abendbrot. Eigentlich müsste ich um 21 Uhr ins Bett gehen, das
schaffe ich oft nicht.“ Wenn der Bus pünktlich ist, hat sie noch etwa
dreieinhalb Stunden bis zum Schlafengehen. Heute wird es, wie so oft,
später. Um 17.55 Uhr hält der Bus in Dranske. Maximilian und Josepha
steigen aus. Fast zwölf Stunden zuvor sind sie hier eingestiegen.
Die Frage ist, was man fürs Leben lernt, wenn man als Teenager um 6.06 Uhr in den Schulbus steigen muss.
Eine Jahrgangskollegin, die mit im Bus sitzt und ein paar Haltestellen
früher aussteigt, erzählt, dass eigentlich alles auf Rügen in Bergen
stattfinde. Wann immer es gehe, übernachte sie bei Freundinnen in der
Stadt. Volleyballspielen am Abend sei nicht mehr drin. Das Training
beginne erst um 19 Uhr, „das passt nicht mit den Buszeiten.“
Josepha sagt, dass sie schon mal mit ihren Eltern überlegt habe, ob es
nicht möglich wäre, für die Fahrschüler ein Internat in Bergen
einzurichten. „Die Politiker interessiert unsere Situation doch gar
nicht“, sagt Maximilian.
Jede Schulschließung ist immer auch ein Signal des Niedergangs. Keine
Turnhallen mehr für Vereine, keine Räume, die auch für andere
Veranstaltungen offen stehen. Keine jungen Leute mehr im Ort.
Für Josepha ist der Schulweg Normalität. „Dass wir so lange fahren
müssen, ist doof. Aber was soll man machen?“ fragt sie. Auch die anderen
Jugendlichen zucken mit den Schultern. So ist es eben. Jens Basan aber,
der Lehrer, sagt: „Dass einige lange fahren müssen, während die anderen
Freizeit haben, ist vor allem sehr ungerecht.“
Die Frage ist, was man fürs Leben lernt, wenn man als Teenager um 6.06
Uhr in den Schulbus steigen muss. Dass manche abgehängter sind als andere?