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„Mit Liebe und Wut“

Henning Jeschke, der vor der Wahl in Hungerstreik getreten war, will nun für den Klimaschutz Autobahnen blockieren. Denn laut der Wissenschaft bleiben nur noch drei bis vier Jahre, um das Ruder herumzureißen. Kann ziviler Ungehorsam ausreichend aufrütteln?

In Minute 40 der Diskussion mit Olaf Scholz fängt Henning Jeschke an, sich in Rage zu reden. „Wie soll ich meiner Tochter erklären, wenn ich in zwanzig Jahren mal eine haben sollte, wir haben damals gewusst, was passiert?“, sagt der 21 Jahre alte Klimaaktivist gegen Ende seines Monologs. Und: „Dass wir trotzdem weiter gemacht haben wie bisher, weil die politische Klasse es nicht hinbekommen hat zu sagen: Es gibt kein Budget mehr, wir haben schon genug verbrannt, Rückwärtsgang einlegen!“

Von Beginn an haben der voraussichtlich nächste Bundeskanzler auf der einen Seite und Henning Jeschke sowie Lea Bonasera von der Gruppe „Letzte Generation“ auf der anderen Seite aneinander vorbeigeredet. Dass die Drei überhaupt auf einem Podium sitzen, liegt daran, dass Olaf Scholz Jeschke einen Tag vor der Bundestagswahl auf dem Handy angerufen hat, um ihnen ein Gespräch zuzusichern. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jeschke 27 Tage und Bonasera sechs Tage lang nichts mehr gegessen, am Morgen hatten sie auch das Trinken ausgesetzt, um ein öffentliches Gespräch zu erzwingen. Sie stammen aus der Gruppe von jungen Hungerstreikenden, die am 30. August im Regierungsviertel ein Camp aufgeschlagen hatten, was zunehmend die Wahlkampfberichterstattung begleitete.

Das eingeforderte Gespräch – zu dem die Kanzlerkandidaten Armin Laschet und Annalena Baerbock nicht bereit waren – findet am 12. November in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin statt. Im Publikum sitzen zwanzig Gäste, darunter der frühere Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung Hans Joachim Schellnhuber, Seenotretterin Carola Rackete und ein Anti-Fracking-Aktivist aus Argentinien. Die Öffentlichkeit wird über einen Live-Stream hergestellt.

In den hart erkämpften 60 Minuten mit Scholz wollen Jeschke und Bonasera zumindest einmal von ihm hören, dass die Klimaerwärmung mit dem aktuellen Kurs der Bundesregierung auf mehr als zwei Grad zusteuert. Und wissen, ob ihm bewusst sei, dass im Jahr 2070 laut Berechnungen 3,5 Milliarden Menschen nicht mehr dort leben können, wo sie jetzt leben, weil „Todeszonen rund um den Äquator entstehen“, wie Jeschke es formuliert.

Doch Worte, wie Jeschke und Bonasera sie hören wollen, kommen Scholz nicht über die Lippen. Der SPD-Mann – auf Wahlplakaten „Kanzler für Klimaschutz“ – möchte lieber über konkrete Maßnahmen reden. Doch das wollen Jeschke und Bonasera nicht. Nicht, solange nicht klar ist, ob die Klimakrise für Scholz eher den Rang einer Grippe oder einer Pandemie hat.

Am Ende der Diskussion werden die beiden aber doch konkret: Sie fordern ein Anti-Wegwerf-Gesetz für Lebensmittel und dass die Landwirtschaft bis 2030 nachhaltig wird. Wenn die neue Regierung bis Ende des Jahres keinen deutlichen Kurswechsel erkennen lässt, kündigen die beiden an, wollen sie mit ihrer Gruppe „Letzte Generation“ Autobahnen und Bundesstraßen in ganz Deutschland besetzen. Immer wieder, bis sich etwas ändert.

„Die Blockaden haben nicht zum Ziel, einen Schaden herbeizuführen, sondern uns vor Schaden zu bewahren, in dem wir keine Zeit mehr verstreichen lassen“, sagt Jeschke drei Tage später. Er sitzt im Zug nach Essen, wo er die Kampagne „Aufstand der letzten Generation“ vorstellen will. Anschließend geht es nach Düsseldorf, Freiburg, München.

Der 21 Jahre alte Aktivist kommt aus Greifswald und hat in Lüneburg angefangen, Politik zu studieren, bevor er dazu überging, in Vollzeit für das Klima zu rebellieren. Seit drei Jahren werden seine Haare langsam grauer.

Die meisten werden sie für ihre Methoden hassen, das ist ihm bewusst. Es gehe aber auch nicht darum, möglichst beliebt zu sein, sondern möglichst viel Diskussion anzuregen. Rettungswagen wollen sie natürlich durchlassen.

Die Gruppe ist auf rund 50 Mitglieder angewachsen, schätzt Jeschke. Manche kennt er von seiner Zeit bei der Klimabewegung Extinction Rebellion (XR), andere schlossen sich über den Hungerstreik an. Der Name der Gruppe soll deutlich machen, dass man eben die letzte Generation sei, die eine Katastrophe noch abwenden könne. Ans Ende ihrer Mails setzt sie gerne die Grußformel „mit Liebe und Wut“. Sie zieht Leute an, denen es nicht mehr reicht, bei „Fridays for Future“ mitzulaufen. Einige haben Studium oder Arbeit für den Aktivismus reduziert oder heruntergefahren. Mit XR sei man nicht quer, aber in einer kleinen Gruppe könne man schneller Entscheidungen treffen, sagt Jeschke.

Zum Vortrag in Essen kommen Aktivisten, von denen einige bereits Erfahrungen mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gesammelt haben. Die Zahl bleibt an diesem Abend einstellig. Je radikaler der Protest, desto weniger sind dabei. Jeschke weiß, dass er keinem unter ihnen die Erderhitzung erklären muss, trotzdem beginnt er mit Zahlen. Er möchte, dass die Runde sich noch einmal bewusst macht, dass die Klimakrise eine Dimension bekommen werde, an die nichts herankomme, was bisher in den Geschichtsbüchern steht.

Er hofft, Mitstreiter für die Blockadeaktionen zu finden. Mitstreiter, die auf Unverständnis und mögliche Gewalt nicht mit Gegengewalt reagieren, die in Kauf nehmen, wegen des Vorwurfs von Nötigung und Ordnungswidrigkeiten in Polizeigewahrsam, vor Gericht und möglicherweise sogar im Gefängnis zu landen.

Wie kommt es, dass ein junger Mensch bereit ist, zu so drastischen Mitteln zu greifen? Seine Freiheit aufs Spiel setzt und sogar seine Gesundheit?

Blick zurück, 19. September. Henning Jeschke liegt in einem Zelt des Hungerstreik-Camps, eingemummelt in Decken, damit er nicht unnötig Wärme verliert. „Der Hunger, den wir gerade spüren, und in den wir uns freiwillig begeben haben, trifft schon jetzt viele Menschen, ohne dass sie eine Wahl haben“, sagt er an seinem 21. Streiktag. Am Ende wird er 27 Tage nichts essen und 13 Kilogramm abnehmen. Am letzten Tag vor der Bundestagswahl, als jede Partei versucht, ihre letzte Botschaft abzusetzen, hört Henning Jeschke auf zu trinken. Nach sieben Stunden ruft Olaf Scholz mit unterdrückter Nummer an.

Es sei eine Tat der Verzweiflung gewesen, in der er aber eine totale Entschlossenheit gespürt habe, sagt er heute. Seine Rolle: wachzurütteln. Denn laut dem britischen Wissenschaftler Sir David King, den Jeschke immer wieder zitiert, bleiben nur noch drei bis vier Jahre, das Steuer herumzureißen.

Die Zeit rennt davon, darin ist sich die Wissenschaft einig. Und trotzdem: Sind Hungerstreiks und Straßenblockaden legitime Mittel? Ist es angemessen, anderen Menschen dadurch seinen Willen aufzuzwingen? „Was gerade schiefläuft, ist doch nicht, dass Menschen in den Hungerstreik treten, sondern das Unrecht an denen die jung oder noch nicht geboren sind“, sagt er. Weil ein System aufrechterhalten werde, das ihnen die Grundlagen zum Leben nimmt. Dabei sei es die Pflicht der Regierung, die Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen zu schützen. So jedenfalls steht es in Artikel 20a des Grundgesetzes. „Wenn eine Regierung ihre Verfassung bricht, ist es an den Menschen, deswegen aufzustehen.“

Henning Jeschke schlägt vor, klar über die Klimakrise zu reden und die Empfehlungen des Bürgerrats Klima zur Landwirtschaft umzusetzen. „Wir sehen, dass die parlamentarische Demokratie mit langfristigen Entscheidungen ihre Probleme hat, da man in der Berufspolitik viel auf Wiederwahl und Lobbyismus bedacht ist.“ Außerdem würde er klimaschädliche Subventionen abschaffen, die 2018 laut Umweltbundesamt 65,4 Milliarden betrugen. „Eine Kerosinbesteuerung ist zum Beispiel sofort machbar.“

Er sieht sich in der langen Tradition des friedlichen zivilen Widerstands. Das sei der Weg, wenn die anderen Wege nicht zum Ziel führen. „Und wir sehen keinen anderen“, sagt er mit eingefallenen Wangen im Hungerstreik-Camp im Regierungsviertel. Am Ende wird er dort im Rollstuhl gefahren, selbst für kurze Wege.

Henning Jeschke, der eine relativ unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit auf Bolzplätzen und beim Improtheaterspielen verbracht hat, hat andere Wege versucht. Aufgerüttelt durch Greta Thunbergs Rede („How dare you“) sei er regelmäßig zu den Demos von „Fridays for Future“ gegangen, hörte sich dort Vorträge an und hielt bald selbst welche. Ernüchtert war er nach der ersten großen Kundgebung, an der im September 2019 rund 1,4 Millionen Menschen in Deutschland teilnahmen. Die Politik habe zwar das Klimaschutzgesetz geschlossen, anschließend aber viel zu wenig danach gehandelt.

Jeschke schloss sich den Aktivisten von Extinction Rebellion an, deren Methode es ist, starke Bilder zu erzeugen. Er baute eine örtliche Gruppe in Lüneburg auf und organisierte Aktionen des zivilen Ungehorsams. Als im Sommer 2020 ein Flughafen für Kurzstreckenflüge in Lübeck eröffnet wurde, versuchte er sich an die Außenhaut eines Fliegers zu kleben, um den Abflug zu verhindern. Bei der Aktion „Uns steht das Wasser bis zum Hals“ schleuderte er vor einem halben Jahr pinke Farbe an das Hamburger Rathaus. Die Turnschuhe, die er bei seinem Vortrag in Essen trägt, haben davon immer noch Sprenkel.

Für seine Aktionen nimmt er Hausverbote und Anzeigen in Kauf. Bisher wurden alle abgeschlossenen Verfahren gegen ihn wegen Geringfügigkeit eingestellt. So wie die vieler Klimaaktivisten, die mit Straßenblockaden und anderen Aktionen auf den Klimawandel aufmerksam machen. Laut XR nimmt das Verständnis von Rich­te­rinnen und Richtern für die Motive von Kli­ma­ak­ti­vis­ten nimmt zu. Anders sieht es in England aus, dort wurden die Gesetze nach zunehmenden Blockadeaktionen verschärft.

Und auch in NRW gab es nach massiven Protesten an Kohlekraftwerken und im Hambacher Forst Gesetzesverschärfungen. Aktivisten können nun bis zu einer Woche in Polizeigewahrsam festgehalten werden, wenn sie ihre Identität nicht preisgeben. So erging es auch Henning Jeschke, der einmal vier Tage in der Zelle einer Bonner Polizeistation verbrachte, nachdem er einen Kohlebagger besetzt hatte.

„Digital detox“, nennt er diese Zeit ohne Handy und lacht. Ja, Henning Jeschke kann auch lachen. Selbst wenn er oft ernst schaut, wie man es von einem Klimaaktivisten ja auch irgendwie erwartet. Es ist ein helles Lachen, ein fast kindliches Kichern. „Man überlegt dann nochmal, warum man das alles macht, aber ich kam immer wieder zu dem Schluss, dass es richtig ist, dass ich gerade da bin. Dieses Verdrängen macht einen echt kaputt. Wenn man aber weiß, dass etwas schiefläuft und man etwas dagegen unternimmt, gibt es eine gewisse Widerstandsfreude.“

In seiner Zelle der Bonner Polizeiwache sah diese Widerstandsfreude in etwa so aus: „Ich habe gesungen, ich habe Sport gemacht, habe Schach gespielt“, erzählt er und tatsächlich scheint er sich gerne an diese Tage zu erinnern. Dazu musste er sich aber erstmal ein Schachspiel basteln, aus Esskarton, Plastiklöffel und Klopapierkügelchen. Nur geschlafen habe er nicht so gut bei dem Dauerlicht. Als man ihm das Schachspiel wegnahm, hat er aus gerolltem Klopapier einen Schriftzug gelegt: „Papa, was hast Du damals getan?“ Sogar über die Videokamera, die ihn in seiner Zelle überwachen soll, ist er als Aktivist auf Sendung.

Die Elterngeneration spricht Henning Jeschke auch deshalb direkt an, weil seit den Achtziger Jahren bekannt ist, welche dramatischen Auswirkungen der menschengemachte Klimawandel haben würde. Auch eine Mutter, die in Essen in der Runde sitzt, erzählt davon. „Meine Generation hat versagt“, sagt sie. Sie ist nun bei Parents for Future, um es besser zu machen. Bei den Straßenblockaden möchte sie aber nicht mitmachen. An ihrem Job hänge die Existenz einer Familie.

Aber hilft ziviler Ungehorsam wirklich? Oder bewirkt er das Gegenteil? Man müsse ein notwendiges Drama kreieren, um den Diskurs in die Bevölkerung zu tragen, sagt Jeschke. „Nur mit aktivem Widerstand werden wir den Verrat an der jungen Generation beenden können.“ Er hofft, dass es immer mehr Menschen werden, wie bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung „Freedom Riders“, von denen er auch in seinen Vorträgen erzählt. Auch ihnen schlug Ablehnung und Gewalt entgegen, als sich 1961 schwarze und weiße Menschen gemischt in einem Bus in die Südstaaten aufmachten. „Doch bald gingen immer mehr auf die Straße, um gegen Rassentrennung zu demonstrieren.“ Damals ging es um die massive Benachteiligung von Schwarzen. Heute wissen wir: Schritt für Schritt wurde es besser.