erschienen in enorm, 29.4.2016
Die Gründungsgeschichte von Gusti Leder ist eine, die man gerne weitererzählt. Der Legende nach geht sie so: Im Jahr 2007 fliegt Christian Pietsch, 22 Jahre alt, VWL-Student, mit dem Rucksack nach Indien. Er besucht Gerbereien und sieht, wie die Arbeiter einem alten Handwerk nachgehen und hochwertige Lederwaren fertigen. Er kauft ein paar Taschen und nimmt sie mit nach Hause. Sein Gedanke: Daraus müsste man doch mehr machen.
Neun Jahre später, eine ehemalige Fabrik in einem Gewerbegebiet von Rostock. Pietsch ist inzwischen 31, und aus seiner Idee ist eine Firma mit 85 Angestellten geworden. 20.000 Artikel verkauft er im Monat, Rucksäcke, Fahrrad- und Umhängetaschen, Geldbörsen, Kulturbeutel, Hüllen für Laptops, vor allem über den mehrsprachigen Onlineshop. Bald will er Filialen aufmachen, in Köln, Hamburg und Berlin.
Gusti Leder will der beste Lederhändler sein
Im Bundesstaat Rajasthan im Nordwesten Indiens sind inzwischen 12 Familienbetriebe für ihn tätig. Sie hatten zuvor keine Abnehmer in westlichen Ländern, jetzt fertigen sie die „Nature“-Linie von Gusti Leder. Dafür nutzen sie Häute von Ziegen aus Freilandhaltung und gerben diese in einem natürlichen Verfahren, mit Blättern des heimischen Bambool Tree.
Das Geschäft floriert. Weil die einstigen Räume in der Rostocker Innenstadt zu klein wurden, musste Gusti Leder vor knapp einem Jahr in die Fabrikhalle umziehen. Hier sitzen 60 Mitarbeiter in einem Raum, IT- und Social-Media-Experten, Fotografen, PR- und Marketing-Leute. Altersschnitt: 27 Jahre. Zwischen den mit Grünpflanzen und Holzpaletten abgetrennten Arbeitsplätzen ist es still, ab und zu hört man ein Flüstern. An der Wand hängen Motivationssprüche: „Whatever the problem, be part of the solution“ und „Think bigger“. Pietsch ist es gelungen, in einer Region, die wirtschaftlich leidet, ein Vorzeigeunternehmen aufzubauen. Und so sitzt er, der ein weiches Gesicht und rote Wangen hat, in dem Besprechungsraum der Fabrikhalle und sagt: „Wir wollen nicht der größte, sondern der beste Lederhändler sein.“
Der Kontakt zu ihm ist auf seine Initiative hin entstanden. Das ist nicht ungewöhnlich. Immer wieder melden sich Unternehmen bei enorm, um sich und ihre Produkte vorzustellen. Besonders war in diesem Fall die Ansprache. Kurz vor Weihnachten landete ein Brief in der Redaktion. Handgeschrieben, mit schwarzer Tinte auf braunem, naturbelassenem Papier. Absender: Christian Pietsch. „Haben Sie schon einmal von Gusti Leder gehört? Nein? Sollten Sie aber. Wir haben eine spannende Geschichte und faire Visionen im Ledergepäck.“ Im Briefumschlag lag, wie zum Beweis, etwas Rinde des Bambool Tree. Ein Blick auf die Webseite verriet ein wenig mehr. Transparenz und Fairness stünden „an erster Stelle“, heißt es dort, die „Nature“-Produktion sei „rein ökologisch und nachhaltig“.
Stutzig machten nur die niedrigen Preise der fairen Produkte. 45 Euro für einen Rucksack. 27 Euro für eine Kulturtasche. 85 Euro für eine Umhängetasche – nur 16 Euro mehr als für die konventionell gefertigte. Kann das sein? Passt das zusammen? Gerade auch, weil kein Beleg für die Behauptungen zu finden ist, von einem unabhängigen Prüfer etwa.
Feierabendbier für alle
Besucht man Gusti Leder in Rostock, fällt zunächst auf, dass der Gründer es offenbar gut meint mit seinen Mitarbeitern. Um die Zahl der internen Mails zu begrenzen, gibt es zwei Mal am Tag eine 15-minütige Pflichtpause, FKP genannt, Frischluftkommunikationspause. Dazu läutet ein Kollege einen Gong, der auf einem alten Singer-Nähmaschinentisch festgebolzt ist. Dann springen die Mitarbeiter auf und diskutieren draußen. Es gibt einen Besprechungsraum, der bei Bedarf als Schlaf- oder Yogaraum dienen kann, alle zwei Wochen kommt ein Masseur. Dort gibt es auch einige Spielsachen für Kinder, die einmal keine Betreuung haben. Bisher hat kaum einer Kinder. „Aber das wird kommen“, sagt Pietsch. Einmal im Monat frühstücken sie zusammen, manchmal gibt es Feierabendbier für alle.
Demnächst will Pietsch mit allen Mitarbeitern, die er Team nennt – „das Wort Mitarbeiter haben wir abgeschafft“ – ein Handballspiel besuchen. „In einem Unternehmen ist es ja wie in einem Handballteam. Nicht nur die Torjäger machen den Erfolg, auch die Kreisläufer oder ein Links oder Rechtsaußenspieler sind wichtig.“ Sich selbst sieht er als Coach. „Anfangs habe ich das falsch gemacht. Da habe ich mich gewundert, warum außer mir niemand mitdenkt. Flache Hierarchien sind für unseren Erfolg ganz entscheidend.“
Darauf setzen sie auch im Gespräch mit ihren Kunden. „Wir wollen nicht nur etwas verkaufen, sondern auch eine Community aufbauen“, sagt Henrike Jansen, 26, seit einem halben Jahr Produktmanagerin. Das funktioniert vor allem über Facebook, Twitter, Instagram und Pinterest. Auf der Facebookseite gibt es alle paar Tage ein Gewinnspiel, der letzte Eintrag ist selten älter als drei Tage. Bei Gusti Leder werten sie alle Kommentare aus und fragen, wie ihre Produkte ankommen. „Wie viel würdet Ihr für diese Tasche ausgeben?“ – „Welche Schnalle wünscht Ihr Euch?“
„Dass der Kunde der König ist, das gilt bei den meisten Unternehmen seltsamerweise nur bei der Kaufentscheidung“, sagt Christian Pietsch. „Wir beteiligen unsere Kunden schon in der Entwurfsphase.“ Und tatsächlich kommen über Facebook bis ins Detail gehende Vorschläge. Eine Kundin schickte kürzlich einen Entwurf, den sie bei Gusti Leder so überzeugend fanden, dass sie ihn produzieren ließen. Die Tasche heißt jetzt wie ihre Erfinderin: Kirsty.
Wachstum vor Nachhaltigkeit?
Soll Gusti weiter in diesem Tempo wachsen? „Als Unternehmer hat man größere Ängste, als dass die Firma zu schnell wächst“, sagt Pietsch. „Zum Beispiel, dass Konkurrenten billiger sind und dich kaputt machen.“ Sein Plan ist, stärker auf Nischen zu setzen. Er denkt an Fahrradprodukte („Fahrräder sind ja die neuen Autos. Prestigeobjekte“), Taschen oder Spritzschutz aus Leder und Vintage-Fahrradhelme aus Lederriemen. Und Spezialtaschen, für Fotografen zum Beispiel oder eine für Utensilien, die Raucher von E-Zigaretten brauchen.
Es fällt schwer, die Rostocker nicht zu mögen. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich der Optimierung ihrer Arbeitswelt und ihrer Produkte widmen, Kunden bei Fehlern handgeschriebene Briefe schicken und ihre Follower zählen, das ist fast ein bisschen rührend. Und beeindruckend.
Umso irritierender ist es, dass es mit der versprochenen Transparenz nicht so weit her ist, wie Christian Pietsch es gerne darstellt. Angeblich aus Angst, dass ihm Konkurrenten die Produzenten streitig machen, will er weder die Namen der Familienbetriebe noch die Stadt veröffentlichen, in der sie arbeiten. Auch wenn er von seinen Wachstumschancen spricht, ist Nachhaltigkeit kein Thema mehr.
Neben der „Nature“-Kollektion gibt es nämlich noch die konventionelle „Studio“-Linie, die 30 Prozent des Umsatzes ausmacht. Sie wird von zwei Fabriken in Indien und Italien hergestellt, mit chemischer Gerbung und in automatisierteren Prozessen. Und eben hier sieht er größeres Potenzial. „Die Studio-Produkte sind leichter zu kontrollieren“, erklärt er.
Neben dem Verzicht auf Kinderarbeit gibt es kaum konkrete Indikatoren, die Gusti Leder zu einer fairen Firma machen könnten. Der schönen neuen Arbeitswelt und den Innovationen, die das Arbeitsleben in Rostock optimieren, steht auf der indischen Seite der Wertschöpfungskette eine überraschende Leere gegenüber. Es sei vereinbart, dass die Produzenten mindestens Handschuhe, Stiefel und Arbeitsschutzhosen tragen müssten, sagt Produktmanagerin Henrike Jansen.
„Wir sind nicht die Fairsten“
Erst im März war Christian Pietsch in Indien. Im Netz findet man ein Video, wie er Tüten mit Kugelschreibern und Collegeblöcken an Kinder in Schulen verteilt. Auch das Geld stammte von einer Spendenaktion. „Ich würde nicht behaupten, dass wir die Fairsten und Ökologischsten sind. Ich sage lieber, dass wir absolut transparent sind“, so Pietsch. „Ich bin ganz offen. Zum Beispiel habe ich bei einer Fabrik, die für unsere Studio-Linie arbeitet, meine Zweifel, ob die Stadt das Abwasser vorschriftsmäßig entsorgt. Trotz der Zertifikate, die das suggerieren.“ Und er sagt, dass er gerne mit einer NGO zusammenarbeiten und ihr auch Geld geben würde, damit die das aufdeckt.
Aber die Zusammenarbeit aufzukündigen, das kommt für ihn nicht infrage. Sein Ansatz: „Wir zeigen dem Kunden, was wir machen. Der kann dann selbst entscheiden, ob er bei uns kauft.“ Aber können Kunden das wirklich, wenn sie keine unabhängigen Information erhalten?
„Wenn ich sagen würde, dass es mir damals bei der Firmengründung um die Leute in Indien ging, würde ich lügen“, so Pietsch. „Ich wollte etwas Eigenes aufbauen, ich fand es spannend zu gucken, ob das funktioniert.“ Man nimmt ihm ab, dass er bereit ist, sich zu engagieren – aber nur so weit wie es das Wachstum nicht behindert.
Manuel Blendin ist Geschäftsführer des Forums Fairer Handel. Für ihn ist klar: „Die Firma muss sich untersuchen lassen, um glaubwürdig zu sein. Diesem Prozess muss sie sich stellen. Und auch wenn es bisher kein Siegel für faire Lederwaren gibt, so gibt es andere Möglichkeiten. Gusti Leder könnte als Unternehmen Mitglied der World Fair Trade Organisation werden.“
Manfred Schuhmacher, Vorstand von Fair-Band, dem Bundesverband für fairen Import und Vertrieb, sagt: „In den letzten Jahren erleben wir es immer öfter, dass sich Unternehmen als fair, nachhaltig und transparent beschreiben, ohne dass es dafür ausreichend Nachweise gibt. Fairer Handel ist ein Wachstumsmarkt und da gibt es natürlich Trittbrettfahrer. Für uns ist das sehr ärgerlich, es vermittelt einen falschen Eindruck und täuscht die Käufer. Einige Unternehmen bewegen sich damit am Rande des unlauteren Wettbewerbs.“
Hier die Inder, die Häute bearbeiten. Da die jungen Rostocker mit Feierabendbier. Dass es gut läuft, liegt auch an den niedrigen Herstellungskosten. Aber wie fair kann ein Produkt sein, das darauf basiert, dass die Löhne, Arbeitsbedingungen und Lebenschancen im Norden und Süden dieser Welt weit auseinanderklaffen? Anfang des Jahres konnte man bei Gusti einen Gutschein über zehn Euro gewinnen, wenn man seine Neujahrsvorsätze mitteilte. „Mehr von Gusti Leder einkaufen, ganz klar“, schrieb eine Frau. Wann immer es sich darauf reduzieren lässt, droht eine ursprünglich spannende Geschichte schnell langweilig zu werden.