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Aber letztlich bin ich ja ich

Christina Ernst ist 41, blind und todkrank. Seit der Krebs zurück ist, ist die Angst allgegenwärtig, aber sie erlebt auch großes Lebensglück. Von einer, die noch lange nicht fertig ist mit dieser Welt

In der Straßenbahn zur Kletterhalle bleiben einige Blicke an Christina Ernsts Gesicht hängen. Ah, ein langes Pflaster, denken sie vielleicht über das, was ihr rechtes Auge verdeckt. Wahrscheinlich hätte ich das auch gedacht, wenn ich ihr einfach so begegnet wäre. Tatsächlich hat sie gar kein echtes Auge mehr. Und das, was aussieht wie ein Pflaster, ist ein Stück von Christinas Rückenhaut.

Von der Straßenbahn bis in die Umkleidekabine biete ich Christina meinen Arm an. Wäre sie allein, würde sie ihren faltbaren Stock aus dem Rucksack holen. Aber so ist es einfacher für sie. Nun bin ich es, die sie auf Hindernisse aufmerksam machen muss, damit sie nirgendwo gegen stößt, nicht umknickt, nicht ins Leere tritt – oder in Hundekacke. In der Umkleide muss ich über ihre Socken lachen. Sie sind knallbunt und es sind Faultiere drauf. »Sie machen mir gute Laune«, sagt Christina. Allein zu wissen, dass sie lustige Socken anhat.

»Als ich zwei war, habe ich oft nicht erkannt, ob meine Mutter oder mein Vater zur Tür reinkommt«, erzählt sie. Schuld an ihrer Sehschwäche war ein Retinoblastom, eine seltene Krebserkrankung in der Netzhaut, die bei ihr erblich bedingt ist. Ein Auge musste gleich entfernt werden, das andere versuchte man durch Bestrahlung zu retten. Doch kurz vor ihrem vierten Geburtstag musste auch das durch ein Auge aus Glas ersetzt werden. Von nun an war sie vollständig blind. Der Tumor galt als verschwunden.

Mittlerweile ist Christina Ernst 41 und ihr Weg war nicht der, den die Gesellschaft für blinde Menschen vorsieht. Statt eine Blindenschule besucht sie erst die Grundschule, dann das Gymnasium um die Ecke. Das Abi schafft sie mit 1,0 – und zwar als erste blinde Schülerin überhaupt, die in Niedersachsen komplett integrativ beschult wurde. Für diese Leistung wird sie in den ZDF-Jahresrückblick »Menschen 2003« von Johannes B. Kerner eingeladen, wo sie unter anderem auf Loriot, die deutschen Fußballweltmeisterinnen und Aron Ralston trifft, einen Kletterer aus den USA, der fünf Tage in einer Felsspalte eingeklemmt war und nur überlebte, weil er sich selbst den Unterarm amputierte.

Was Christina werden will, weiß sie schon seit Jahren: Pastorin. Darauf kam sie während eines Schüleraufenthalts in Kanada, den sie sich über Verwandte, die in der Nähe von Toronto leben, selbst organisiert hat. Auf der mennonitischen Schule gehörte es zum Alltag, über Werte, Glaube, Ethik zu sprechen. Das gefiel ihr. Sie beginnt evangelische Theologie zu studieren, promoviert, wird Pastorin, übernimmt ihre erste Gemeinde auf Probe. Eine Assistentin hilft ihr beim Konfirmandenunterricht, begleitet sie zu Geburtstagsbesuchen und auf Beerdigungen.

Nach drei Jahren wird sie – aus Neugier wie Kirchenpolitik gemacht wird – persönliche Referentin für das höchste Laienamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie schreibt Reden für die Präses, bereitet die Synode vor, das ist so etwas wie das evangelische Kirchenparlament. Die Arbeit an der Basis erfüllt sie allerdings noch mehr. Nach drei Jahren nimmt sie eine Stelle beim Forum Kirche und Diakonie Göttingen an. Leicht ist das alles trotz hervorragender Leistungen nicht. Denn neben ihren Eltern und einigen anderen, die sich sehr für sie einsetzen, trifft sie immer wieder auf Menschen, die ihr wenig zutrauen. In der Schule hört sie Sätze wie: »Mal schauen, wie du dich machst, und ob du bleiben kannst.« In der Studienberatung wird sie gefragt, ob sie nicht lieber Jura studieren will – Hebräisch und Alt-Griechisch seien so schwer. Ihre erste Pfarrstelle bekommt sie nur gegen den Willen des halben Kirchenvorstands. Und als persönliche Referentin wird ihr gesagt, sie möge bitte nicht jeden Mittag mit den Kolleginnen essen gehen – die müssten sich doch auch mal erholen. Heute kann sie darüber lachen, wenn sie davon erzählt. Aber es ist kein amüsiertes Lachen.

Christina versucht auf ihre Weise, den Blick auf blinde Menschen zu verändern. Auf Instagram schreibt sie vom prickelnden Gefühl, sich den Eisbach in München herunter treiben zu lassen, postet Bilder vom Klettern im Harz und ein Video von ihrem ersten Gleitschirmflug. Sie erklärt, was sie mit Farben verbindet, wie sie Klamotten kauft und ermutigt Nutzer, sie alles zu fragen, was sie gerne mal eine blinde Pastorin fragen würden.

Ihre offensive Art gefällt mir. Und doch liegt auch eine Schwere auf unserem Kennenlernen für diese Geschichte. Im Sommer 2020 wurde bei ihr ein Leiomyosarkom diagnostiziert, ein sehr seltener, sehr bösartiger Krebs. Christina rennt die Zeit davon. Seit Frühjahr 2023 ist die Behandlung palliativ, das heißt, der Krebs wird nicht mehr weggehen. Wie geht sie damit um?

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