Oliver Stitterich hat anstelle eines linken Unterschenkels einen Mr. Stumpy. Was ihn ganz und gar nicht davon abhält, Radrennen zu fahren. Im Gegenteil.
Nur wenigen scheint aufzufallen, dass anstelle eines linken Beins Carbon und Metall aus Oliver Stitterichs Radlerhose schauen. Er versucht gar nicht erst, seine Prothese zu verbergen. Er ist stolz auf sie. „Wenn jemand ein Problem damit hat, kann er es behalten“, sagt er. „Ist ja seins“.
Oliver ist 40, kommt aus Dresden, hat eine graue Haarpartie in der Stirn, tiefe Lachfalten und muskelbepackte Oberschenkel. In seinem Blog nennt er sich einen „Flamingo auf dem Rad“. Er ist einer, der das Leben nicht schwernimmt, obwohl er viel Pech gehabt hat. Mit 18 Jahren stellte man bei ihm eine Autoimmunkrankheit fest und im Juli 2017 musste er sich von seinem Unterschenkel verabschieden.
Angefangen hatten die Probleme zwei Jahre vorher. Aus Neugier hatte er eine Leistungsdiagnostik machen lassen. Fast jeden Tag zog er seine Runden auf dem Rennrad, das er liebevoll „rote Diva“ nennt. Pro Saison kamen bis zu 35.000 Kilometer zusammen. „Ohne Frau und ohne Kinder hast Du Zeit ohne Ende“, sagt er und lacht. Kurz darauf brannten allerdings Wade und Schienbein und seine Fußsohle fühlte sich an, als würde er über Legosteine laufen. Als er zwei Tage später ins Krankenhaus ging, stellte der Gefäßchirurg fest, dass eine Oberschenkelarterie verstopft war.
Eine Arterie freizubohren, ist heute keine große Sache mehr. Kurze Zeit später saß Oliver auch wieder auf dem Rad. Aus eigener Kraft die Welt erkunden und sich Sorgen und Stress aus dem Kopf pusten zu lassen, das ist es, was Oliver am Radfahren so liebt. Vielleicht umso mehr, weil er lange auf sein erstes Fahrrad warten musste.
In der sechsten Klasse hatten Schulkameraden ihm ein aufgemöbeltes Klapprad geschenkt. „Meine Eltern wollten das partout nicht und sagten: Wenn du eins hast, wollen deine Geschwister auch eins.“ Er musste es zurückgeben. Mit 19 kaufte er sich von seinem eigenen Geld ein Rad.
Ein halbes Jahr nach dem Eingriff war mit dem Radfahren aber erstmal Schluss. Nach einer 150-Kilometerrunde war seine Arterie wieder verstopft. „Man vermutet, dass der Urknall eine Thrombose gewesen ist“, erzählt Oliver. Er ist sich sicher, dass der Sport die Probleme verzögert hat. „Die ganzen Kollateralen haben mir den Hintern gerettet, aber die kommen auch an Grenzen.“
Die Ärzte setzten ihm ein Röhrchen ein, das den Querschnitt erweitert. Dieser Eingriff war nicht mehr ganz so klein. Nach einem Jahr war wieder alles dicht. Nun versuchten es die Ärzte mit einer künstlichen Vene. „Frag mich nicht, was alles möglich ist“, sagt Oliver und lacht abgeklärt. Er lacht oft, wenn man ihn nach seiner Odyssee ausfragt. Statt Betroffenheit auszulösen, schafft er es, dass man staunend zuhört und oft mitlachen muss.
Operationen und Reha-Aufenthalte wechselten sich ab. Nach jeder OP raffte er sich wieder auf. Und immer wieder kam der Tag, an dem er nicht mehr auftreten konnte. Nach der vierten Operation sagte der Chefarzt zu ihm: „Wenn diese OP nichts wird, kann es sein, dass Sie Ihren Unterschenkel verlieren“, erzählt Oliver. „Da habe ich gedacht: Mach deinen Job, ich will wieder Fahrrad fahren!“ Die Operation verlief gut, aber ihr Erfolg währte nur Monate. Nun griffen die Ärzte zum letzten Mittel und setzten ihm in einer 16-Stunden-OP eine Spendervene ein. Als auch die wieder verstopft war, riet der Arzt zur Amputation.
Oliver holte sich eine Zweitmeinung ein, doch eigentlich hatte er sich längst entschieden. Er hatte eine Angst vorm Einschlafen entwickelt, weil er fürchtete, wieder mit kaltem Fuß aufzuwachen. Um sich mit den Folgen einer Amputation zu beschäftigen, sprach er mit einer Freundin, die einen Unterschenkel wegen Knochenkrebs verloren hatte, er lernte Menschen mit Prothesen bei Instagram kennen, und er sah bei Youtube, wie amputierte Fußballspieler über den Rasen rannten. „Die Technik ist mittlerweile gigantisch“, sagt er. „Und mit einem Unterschenkel weniger bist du noch richtig gut dran. Da gibt es Leute, die hat es scheißiger erwischt.“
Wer mit einer Autoimmunerkrankung fertig zu werden hatte, blickt wohl auch anders auf das Leben. Mit 19 stand er vor der Wahl: Knochenmarksaustausch oder ein Medikament, bei dem man nicht wusste, ob es hilft. Er entschied sich für das Medikament und es brachte die Symptome zum Erliegen. „Das war das Zeichen für mich: Wenn du willst, kannst du überleben. Das bisschen Bein ab ist ein Witz dagegen“, sagt er. Und so kam es, dass er kurz vor der Amputation einen Puls von 55 und einen Blutdruck von 110 hatte, und der Anästhesist ihn fragte: „Sie wissen aber schon, was gleich gemacht wird?“
Die OP verlief gut und er bereute nichts. „Es ist sicher ein Unterschied, ob du ein Bein beim Motorradfahren verlierst, oder ob du dich monatelang damit rumgequält hast“, sagt er. Doch seine Odyssee war damit nicht vorbei. Drei Wochen nach der OP knickte beim Treppentraining sein rechtes Knie weg. „Ich bin volle Lotte auf den Stumpf gedonnert.“ Aus drei Wochen Krankenhaus wurden drei Monate, aus einer OP wurden sieben. „Die haben mich fast alle zwei Tage in den OP geschoben“, erzählt Oliver. Aber es kam auch vor, dass er stundenlang nüchtern geblieben war und die OP verschoben werden musste. Dazu die Schmerzen und die Ungewissheit, wann es endlich aufhört.
In solchen Momenten war es gut, dass es das Foto auf dem Nachtisch gab. Ein Freund hatte es eine Woche vor der Amputation gemacht, Oliver hatte es rahmen lassen und mit ins Krankenhaus genommen. Es zeigt ihn auf der roten Diva, die für ihn der Inbegriff von Freiheit geworden war. „Jedes Mal, wenn es mir richtig scheiße ging, habe ich da hingeguckt und mir gesagt: Beiß die Zähne zusammen, in einem Jahr sitzt du da wieder drauf!“
Um den Druck zu erhöhen, erzählte er das auch den Schwestern und bestellte sich Radklamotten. Und er fing an, seinen „Stehaufmännchen“-Blog zu schreiben, um Dinge zu verarbeiten, Erfahrungen zu teilen und etwas von seiner Motivation abzugeben, wie es im ersten Eintrag heißt.
Nach drei Monaten kam die Freigabe vom Arzt, dass er den Heimtrainer im Krankenhaus benutzen dürfe. Er zog seine Radklamotten an und fuhr im Rollstuhl vor das Gerät. „Im Trikot war eine Beule und die Hose war auch ziemlich eng“, erzählt er und lacht. Zwölf Kilo hatte er zugenommen. „Da will ich wieder reinpassen, habe ich mir gesagt“, und dann mühte er sich auf das Gerät und fuhr seine ersten Kilometer als Flamingo.
Von nun an ging es bergauf. Kurz vor Weihnachten kam er in die Reha und zehn Monate nach der Amputation saß er wieder auf einem richtigen Rad. Das Rausdrehen aus den Klickpedalen war mit Prothese zwar schwierig und es dauerte, bis er sich zutraute, im Wiegetritt zu fahren. Doch bald reizte es ihn sogar, bei einem kleinen Jedermannrennen mitzufahren.
Wild entschlossen, im kommenden Jahr an fünf Rennen teilzunehmen, bewarb er sich im Team Deutsche Kinderkrebsstiftung. „Ich habe gesagt: Da fehlt was, aber ich will trotzdem“, erzählt er. „Und dann kam die Nachricht: Du bist dabei. – Tschakka!“
Im Juni 2019, also knapp zwei Jahre nach der Amputation, steht er am Start seines ersten 60-Kilometer-Rennens. Die Strecke ist flach, bis auf 40 Höhenmeter mit bis zu 17 Prozent Steigung. „Ich hasse Berge“, sagt Oliver und grinst. „Das ist nichts für meine 80 Kilo.“ Und eigentlich ist es auch nichts für „Mr. Stumpy“, wie er seinen Stumpf getauft hat. Der Wiegetritt belastet ihn besonders.
Bei Kilometer 48 wirken viele schon etwas abgearbeitet, der Atem geht schwer. Der Anstieg hat gerade noch gefehlt. Einzelne Fahrer steigen nach der zweiten Kehre ab. Auch Oliver steht die Anstrengung im Gesicht. Er geht aus dem Sattel, kämpft, keucht und schafft es bis nach oben. Für den Sprint vor dem Ziel gibt er dann nochmal alles. „Da wollte mich einer überholen, aber da dachte ich: Nee.“
Mit seiner Zeit, 2:05 Stunden, ist er sehr zufrieden, zumal er zweimal absteigen musste, weil ihn in der Kniekehle Falten quälten. Auch nach dem Rennen hat er Schmerzen, die noch zunehmen, als er sein Bein aus dem Schaft zieht. „Beim Treten drückt es den Stumpf zusammen und der entspannt sich jetzt wieder“, erklärt er und atmet geräuschvoll ein- und aus. „Aber das hier ist selbst gewähltes Schicksal“, sagt er und versucht ein Lächeln. „In zehn Minuten ist es weg.“
Ob er sich manchmal seinen Unterschenkel zurückwünscht? „Nein, ich trauere dem Klotz am Bein nicht hinterher“, sagt er ohne Zögern. „Mit der Prothese lebe ich wesentlich besser als mit dem Original“. Er könne wieder schmerzfrei laufen, sogar klettern und am sozialen Leben teilnehmen. Um ehrlich zu sein, träume er schon von den Paralympics und motiviert sich selbst, indem er Fotos unter dem Hashtag #myroadtoparis2024 bei Instagram postet. Sieben Rennen fuhr er im vergangenen Jahr. Im Winter verbrachte er viel Zeit auf dem Heimtrainer, sodass er Ende März dieses Jahres gleich einen seinen persönlichen Prothesen-Rekord mit 151 Kilometer aufstellte.
In den Monaten danach kehrte allerdings zurück, womit er dachte, abgeschlossen zu haben: ein eingeschlafener Fuß. Es war kein Phantomgefühl eines Körperteils, das es nicht mehr gibt. Es war der Fuß seines rechten Beins, das er bis jetzt für gesund gehalten hatte. Als er es im Krankenhaus untersuchen ließ, stellten die Ärzte fest, dass seine Hauptarterie im Unterschenkel verklebt war und kaum noch Blut durchließ. Man riet ihm, das Rennradfahren, insbesondere die Wettkämpfe, ab sofort sein zu lassen. Eine harte Ansage für einen, der sich so daran aufgerichtet hatte. Ein letztes Rennen, den Heide-Rad-Cup Ende September, fuhr er trotzdem noch, bevor es wieder ins Krankenhaus ging, um Ursachen und Möglichkeiten herausfinden zu lassen.
Die Frage, wie es ihm nun geht, beantwortet Oliver mit seinem typischen Humor, mit dem er jeden schlechten Witz kontert, den ihm das Leben auftischt: „Es rollt bergab, aber es rollt.“ Im Klartext heißt das: Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann sein rechter Unterschenkel ebenfalls amputiert werden muss. Einen OP-Marathon wie beim linken will er nicht noch einmal über sich ergehen lassen. „Dann lieber gleich ab.“ Und was wird aus seiner Leidenschaft? „Ich kenne drei Leute, die auch mit zwei Prothesen Rennradfahren.“ Ansonsten seien Handbikes fast genauso gut.